Wuligers Woche

Mein Wendejahr

Foto: imago/photothek

»Wir sind das Volk«, riefen die mehr als Hunderttausend Menschen, die im Oktober 1989 in Leipzig auf die Straße gingen. Ich saß vor dem Fernseher und war fasziniert: eine friedliche Massenbewegung für Demokratie und Bürgerrechte. Die Traditionen von 1848 und 1919 schienen wieder aufzuleben. Und ich begann, dieses Deutschland ein wenig mehr zu mögen als bisher.

Theodor Herzl Aus »Wir sind das Volk« wurde dann aber rasch »Wir sind ein Volk«. Mit der Parole fühlte ich mich schon weniger wohl. Auch wenn Johannes Gross in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Stolz des Entdeckers vermerkte, dass es sich dabei um ein wortwörtliches Zitat von Theodor Herzl handelte: Es waren wohl kaum Sympathien für die Emanzipationsbestrebungen des Judentums, die da Pate gestanden hatten. »Wir sind ein Volk« klang unangenehm nationalistisch. Zumal am Rand der Kundgebungen auch aggressiv skandiert wurde: »Wir sind Deutsche! Was seid ihr?«

30 Jahre nach der Wende bin ich wieder skeptisch.

Der Rest meiner Sympathien verflog, als der DDR-Chef-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski verschwand und sich rasch das Gerücht verbreitete, er sei in Israel – denn wer mit Geld zu tun hat, muss natürlich Jude sein, auch wenn der Mann nachweislich keiner war.

Mauer Dann fiel am 9. November – ausgerechnet an einem 9. November – die Mauer. Das Datum des Pogroms von 1938 als deutscher Freudentag. In Bonn erhoben sich die Abgeordneten des Bundestages spontan und stimmten die Nationalhymne an. Die dritte Strophe natürlich: »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Aber ich hörte bei der Melodie »Deutschland, Deutschland über alles«.

Mit meinem Unbehagen befand ich mich in prominenter Gesellschaft. Nicht nur Israels damaliger Ministerpräsident Jitzchak Shamir erklärte, dass die Aussicht auf ein vereinigtes Deutschland ihm wenig gefiel. Auch Margaret Thatcher und François Mitterand machten aus ihrer Skepsis kein Hehl.

Die Einheit kam bekanntlich dennoch, am 3. Oktober 1990. Seltsamerweise – vielleicht ist es auch gar nicht so seltsam – ist mir aber weniger dieser Oktober in der Erinnerung präsent, als vielmehr der August zwei Jahre später, als in Rostock-Lichtenhagen ein Nazi-Mob versuchte, Asylbewerber und vietnamesische Gastarbeiter bei lebendigem Leib zu verbrennen, unter dem Applaus Tausender braver Bürger.

Demokratie Mit den Jahren hat sich meine Missstimmung von damals etwas gelegt. Das wiedervereinigte Deutschland wurde, entgegen manchen Befürchtungen, kein Viertes Reich, sondern eine stabile westliche Demokratie. Im Nachhinein kommt mir mein Alarmismus von 1989/90 manchmal lächerlich vor.

Allerdings nicht ganz so lächerlich wie noch vor fünf Jahren. Wenn ich mir inzwischen die Wahlergebnisse im Osten anschaue, den rechten »Volkszorn« auf den Straßen und in den sozialen Medien sehe, meldet sich das Unbehagen rasch wieder. Ganz traue ich dem Braten immer noch nicht. 30 Jahre nach der Wende bin ich wieder skeptisch.

Andrea Kiewel

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