Interview

»Man darf sich nicht den Spaß nehmen lassen«

Leon Kahane über seine Arbeit als Künstler, deutsche Erinnerungskultur und die Frage, wie politisch Kunst sein darf

von Mirna Funk  14.10.2020 18:23 Uhr

»Erinnerungskultur ist immer politisch«: Leon Kahane Foto: PR

Leon Kahane über seine Arbeit als Künstler, deutsche Erinnerungskultur und die Frage, wie politisch Kunst sein darf

von Mirna Funk  14.10.2020 18:23 Uhr

Herr Kahane, Sie haben vor Kurzem in Berlin Ihre Solo-Ausstellung »Jerrycans to can Jerry« gezeigt. Eine ziemlich politische Arbeit, oder?
Richtig, aber es ging vor allem auch um die Frage, wie stark Politik kulturellen Bedingungen unterliegt. Wie wirkt sich die Geschichte auf die Kultur der Gegenwart aus? Dass diese Frage nicht beantwortet ist, zeigt sich im politischen Alltag. Zwei Beispiele machen das besonders deutlich: Bei den Black-Lives-Matter-Protesten wird Verantwortungsbewusstsein eingefordert und bei den sogenannten Corona-Protesten will man sich nicht verantwortlich verhalten müssen. Bei BLM ist das Verständnis von Freiheit sehr aufgeklärt, während man bei den Corona-Protesten die Freiheit in der Unfreiheit sucht. Das ist eine ziemlich verrückte Paradoxie, die gerade in der deutschen Kulturgeschichte tief verankert ist. 

Warum?
Weil hier nicht die Freiheit in der modernen Gesellschaft gesucht wird, in der man eigenverantwortlich handelt und versteht, dass man ein Höchstmaß an Freiheit erreicht, indem man die eigenen Impulse zugunsten seiner Mitmenschen mal ein bisschen begrenzt. Vielmehr sehnen sich die Corona-Leugner nach einer völkischen Gemeinschaft, in der man einfach macht, was der Anführer, der natürlich selbst einen autoritären und identitären Charakter haben muss, sagt. Das ist eine schön bequeme Rücksichtslosigkeit, und daher kommt auch der infantile Ruf nach Orban, Putin, Trump und Co.

Welche Geschichte, die sich immer noch auf die Kultur der Gegenwart auswirkt, wollten Sie mit Ihrer Arbeit verdeutlichen?
In der Arbeit sieht man einen Benzinkanister der, wie ein Zeitzeuge, seine ganz individuelle Geschichte erzählt. Doch diese Geschichte berichtet gleichzeitig vom Schicksal aller Kanister. Denn der Benzinkanister wurde von deutschen Ingenieuren entwickelt und anschließend für die Kriegsmaschinerie in Masse produziert. Die Firma Max Brose wurde mit der Produktion betraut und holte sich dafür 200 Zwangsarbeiter, die neben dem Firmengelände von der Wehrmacht kaserniert lebten. Der Kanister wurde ab 1944 von den Briten nachgebaut, nachdem sie sich über die Amerikaner die Baupläne besorgt hatten. Auch das erzählt der Zeitzeuge mit englischem Akzent - und er ist stolz auf diesen Wandel und darauf, dass er letztlich helfen konnte die Nazis zu besiegen. Wie wichtig die Zeitzeugen sind, sieht man zum Beispiel daran, dass die Geschichte dieser sowjetischen Zwangsarbeiter und ihrer Familien völlig in Vergessenheit geraten konnte. Genau dafür gibt es die Erinnerungskultur. Sie ist immer politisch.

Manche würden behaupten, Kunst sollte nicht politisch sein.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das funktionieren soll, weil Kultur und Politik so eng miteinander verwoben sind. Die Freiheit der Kunst ist ja auch ein Indikator für den demokratischen Zustand einer Gesellschaft. Auf der 6. Moskau-Biennale habe ich eine Arbeit zu dem Verhältnis zwischen dem politischen System und der Freiheit der Kunst gemacht. In autoritären und totalitären Systemen ist der Stellenwert der Hochkultur viel höher als der der freien Kunst. Ich habe zehn Tage lang vor den Besuchern der Biennale das »Pas de deux« aus Pjotr Tschaikowskis »Nussknacker« gelernt. Damals war gerade Tschaikowskis 175. Geburtstagsjubiläum. Die LGBTQ+-Community sah sich harten Repressalien und gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Auf die Frage eines Journalisten nach Tschaikowskis Homosexualität antwortete Putin sinngemäß: Wir lieben ihn, aber nicht dafür.

Der Einladungstext zur Ausstellung griff Julia Stoscheks Schweigen an und sorgte schon vor der Vernissage für großes Staunen und Raunen in der deutschen Kunstszene. Was genau war passiert?
Es gab im Vorfeld etliche Reaktionen auf den Ausstellungstext. Manche wollten Julia Stoschek in Schutz nehmen, weil sie mit ihrem Engagement so viel für die Kunst tut. Andere fanden, dass sie ja nichts für ihren Urgroßvater könne. Beides finde ich falsch. Man darf sich nicht selbst aus der eigenen Verantwortung entlassen, indem man sich Kunst mit Geld kauft, das von einem Unternehmen mit einer so fragwürdigen Firmenpolitik erwirtschaftet wurde. Es ist doch klar, dass das früher oder später Fragen aufwirft. Also habe ich die räumliche Nähe meiner Ausstellung zu ihrer Sammlung genutzt, um auf diesen blinden Fleck in der Kunstszene hinzuweisen. Die Politik der Familie Stoschek im Umgang mit ihrer eigenen Geschichte und der sich daraus ergebenen Verantwortung ist aber längst bekannt und wurde zuletzt 2015 in den Medien thematisiert. Damals hatte Michael Stoschek durchgesetzt, eine Straße in Coburg nach seinem Großvater zu benennen, indem er der Stadt drohte alle Zuwendungen zu streichen. In der Kunst stieß das auf wenig Interesse, obwohl es hier schließlich um kulturelle Repräsentation geht.

Was antworten Sie Personen, die sagen: »Lass doch die Julia in Ruhe, die tut so viel für Berlin und die Kunst. Warum auf ihr rumhacken?«
Zum einen ist das eine verkehrte Einschätzung der Umstände und des Kräfteverhältnisses und zum anderen folgt das doch der Schlussstrichmentalität. Der Schlussstrich ist aber das Gegenteil von Aufarbeitung und Aufklärung. Hier wurden bewusst Entscheidungen im Umgang mit Geschichtsaufarbeitung getroffen, die von Julia Stoschek mitgetragen werden. Solche Entscheidungen sollte man ernstnehmen, denn sie sind genauso revisionistisch gemeint, wie sie sich hier darstellen. Die Erinnerungskultur, auf die man heute sehr stolz ist, wurde in den allermeisten Fällen gegen den Widerstand der Mehrheitsgesellschaft durchgesetzt, weil die Erinnerungskultur sich nur auf der Grundlage der Aufarbeitung von Schuld und Mitschuld entwickeln kann. Wenn Nachfahren von Tätern und Profiteuren ihre Geschichte relativieren können und das Teile der Gesellschaft auch noch mittragen, beschädigt das die Erinnerungskultur, die nicht nur erinnern, sondern auch konstant den Durchbruch eines völkischen Kulturverständnisses in Deutschland abwehren soll. Wenn den Menschen also an einer pluralistischen deutschen Gesellschaft gelegen ist, sollten sie alles tun, um die NS-Vergangenheit aufzuarbeiten und sie nicht fortzuschreiben.

Was wäre für Sie der größte Erfolg dieser Arbeit?
Die Zwangsarbeiterfamilien müssen angemessen entschädigt werden und die Max-Brose-Straße muss umbenannt werde, am besten in Erinnerung an die Zwangsarbeiter. Außerdem wäre eine Debatte darüber angemessen, was der Widerstand gegen die Aufarbeitung der deutschen Geschichte und Kultur mit dem aktuellen politischen Klima zu tun haben. Immer wieder steht die Frage im Raum, was die Neue Rechte eigentlich mit ihrem Kulturkampf erreichen will. Die Antwort ist einfach: Sie will zu den Weltbildern der Helden des Dritten Reichs zurück. Die Umbenennung der Max-Brose-Straße kommt in so einer Zeit einer Solidarisierung mit solchen revisionistischen Bewegungen gleich. Ich meine, der Mann war NSDAP-Mitglied und Wehrwirtschaftsführer.

Schaut man sich ältere Arbeiten von Ihnen an, dann fällt sofort auf, dass Sie sich auf komplexe Projekte und Installationen spezialisiert haben. Wann fing das an?
Eigentlich wollte ich mal Fotojournalist werden. Mit 20 Jahren habe ich ein halbes Jahr in Israel als Pressefotograf gearbeitet. Das war wahnsinnig interessant, aber leider nicht meine Arbeitsweise. Meinen fotografischen Arbeiten gingen immer umfangreichere Recherchen voraus und so habe ich mich aus dem Bereich der dokumentarischen Fotografie zunehmend in Richtung Installation und Film bewegt. Inzwischen finde ich es am besten, wenn es gelingt ein komplexes Problem in einer möglichst einfachen Arbeit darzustellen. Dabei achte ich sehr darauf, dass alle Elemente miteinander korrespondieren. Also nicht nur die Arbeit selbst, sondern zum Beispiel auch der Ausstellungsort und der Bezug zu aktuellen Debatten, wie zum Beispiel bei der Moskau-Biennale.

Sie haben an der Berliner Universität der Künste studiert. Wie haben Sie sich als jüdischer Student gefühlt? War das ein »Safe Space«, um Ihr Wirken entfalten zu können?
Die Frage zielt vermutlich auf die politischen Entwicklungen auf Universitätscampus ab? Als ich studierte, hatte ich noch keine Probleme als Jude an der Universität. Mit Beginn der Operation Protective Edge in Gaza, also ab Sommer 2014, hat sich die Stimmung dann grundlegend geändert. Zu diesem Zeitpunkt war ich aber nicht mehr im Universitätsalltag involviert. Allerdings habe ich aus meinem Zionismus und meinem Misstrauen gegenüber der deutschen Betroffenheit nie einen Hehl gemacht. Das kam bei vielen Kommilitonen und Künstlerkolleginnen nicht gut an, um es mal vorsichtig auszudrücken.

Haben Sie sich sofort mit Ihrer jüdisch-deutschen Identität beschäftigen wollen oder war das ein Prozess?
Als Kind war das erstmal ziemlich selbstverständlich für mich, und ich bin damit auch immer sehr offen umgegangen. Ich war ja auch gleich ab 1992 an der neu eröffneten jüdischen Schule in der Großen Hamburger Straße, die heute nach Moses Mendelssohn benannt ist. Außerhalb von Schule und Familie hatte ich eigentlich immer mehr das Gefühl, dass andere mit meiner Identität beschäftigt waren. Das hat mich dann wiederum irgendwann auch sehr beschäftigt. Und ich interessierte mich immer mehr für die kulturellen Aspekte des Judentums. Da bin ich in Deutschland auch immer wieder an Grenzen gestoßen. Hier wird Identität oft stellvertretend für Kultur gesehen. Im Judentum ist das aber nicht so. Im Gegenteil folgt das Judentum ja vielmehr der Idee einer Nicht-Identität. Ich habe Kultur immer als einen ständigen Emanzipationsprozess von Identität verstanden und das ist für mich eine der wesentlichsten Lehren des Judentums.

Wie nur wenige jüdische Künstler sind Sie in der DDR geboren und haben dort die ersten Jahre Ihrer Kindheit verbracht. Wie hat Sie diese individuelle Biografie beeinflusst?
Zum einen kenne ich natürlich diese teils tragischen Geschichten der DDR-Juden ganz gut, und für die interessiere ich mich auch zunehmend. Die Juden hatten durchaus eine wichtige Rolle, nämlich den Mythos der DDR als antifaschistischen Staat zu untermauern. Gleichzeitig war man in der DDR auch nicht Jude, sondern Widerstandskämpfer. Die dimitroffsche Faschismustheorie, nach der der Nationalsozialismus die höchste Form des Finanzkapitalismus sei, klingt für mich wie eine antisemitische Entlastungsformel für die DDR, die ja ebenfalls ein NS-Nachfolgestaat war. Nach einer frühen Phase der Überidentifizierung als Ostberliner hat sich da also eher etwas verkracht zwischen meinem Jüdischsein und meinem Geburtsort. Ich bin im Prenzlauer Berg groß geworden. Dort wurde diese Identifikation mit dem Geburtsort zunehmend lokalpatriotisch und identitär. Irgendwann habe ich auch nicht mehr berlinert, weil mir das nur noch wie ein Ausdruck von Zugehörigkeit vorkam. Mein Dialekt bricht mittlerweile nur noch in impulsiven Momenten durch.

Seit einigen Jahren sind Sie Teil des deutschen Kunstbetriebs. Ist Ihnen dort Antisemitismus begegnet?
Der begegnet mir schon häufig, aber natürlich in den seltensten Fällen offen. Oftmals noch nicht einmal bewusst, weil viele klassisch antisemitische Feindbilder heute auch von einer avantgardistischen und kritischen Opposition innerhalb der Kunst bedient werden. Hier wird der Kunstmarkt durchaus zurecht kritisiert. Aber zu oft kommt diese Kritik nicht ohne sehr vereinfachte Freund-Feind-Bilder aus. Leider ist daran gar nichts neu, sondern lässt sich in vielen Fällen kaum von den kulturpessimistischen Weltbildern des ausgehenden 19. Jahrhunderts unterscheiden, wo man sich in Deutschland besonders an Sachen gestört hat, die man schon immer mit Juden assoziiert hat. Nämlich der Moderne, dem Kapitalismus und dem Kosmopolitismus. Alles wieder gängige Feindbilder in der Kunst, weil sie als das Ursprünglich für die Konflikte der Gegenwart gesehen werden. Das folgt einer dichotomen gut-böse Einordnung. Zum Beispiel wie Israel sehr eindeutig auf der Seite des Bösen verortet wird. Nicht zuletzt, weil der jüdische Staat angeblich etwas Authentisches und Ursprüngliches zerstört. Auch das deckt sich mit dem Bild das bereits frühere deutsche Kulturgrößen, wie etwa Heidegger, von den Juden hatten.

Was glauben Sie, sind echte Herausforderungen als jüdischer Künstler in Deutschland?
Das mag jetzt etwas abgedroschen klingen, aber mir wird zunehmend bewusst, dass man sich nicht den Spaß an der Arbeit und am Leben nehmen lassen darf, wenn man sich als jüdischer Künstler in Deutschland mit der eigenen Geschichte beschäftigt. Für mich bedeutet das zum Beispiel, mich mit jüdischen Freunden zu treffen und mit denen über den ganzen Wahnsinn in Deutschland ausgelassen zu lachen.

Mit dem Künstler sprach Mirna Funk.

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