Autobiografie

Letzte Hoffnung Feuchtwanger

Lebenserinnerungen von Sonja Friedmann-Wolf Foto: aufbau

Autobiografie

Letzte Hoffnung Feuchtwanger

Sonja Friedmann-Wolf erzählt vom Exil in der Sowjetunion der 30er-Jahre und ihrer Flucht nach Israel

von Anne Hartmann  09.12.2013 18:29 Uhr

Wissen wir nicht längst genug über den Stalinschen Terror und die Leidensstationen der GULAG-Insassen? Wozu also noch diese Lebenserinnerungen? Das mag denken, wer das Buch nur flüchtig in die Hand nimmt.

Weil sie wichtig und etwas ganz Besonderes sind, ist dem entgegenzuhalten, und weil sie eindrücklich beweisen, dass längst nicht alles gesagt und alles bekannt ist. Sonja Friedmann-Wolf schrieb ihren autobiografischen Bericht bereits Anfang der 60er-Jahre, kurz nach ihrer Emigration nach Israel. Unter dem Titel Im roten Eis wurde er jetzt erstmals veröffentlicht.

Für die damaligen Zeitumstände war der Lebensweg von Sonja Friedmann-Wolf zunächst nicht untypisch. 1923 wird sie in Berlin als Tochter von Lothar Wolf und Martha Ruben-Wolf geboren, beide Mitglieder der kommunistischen Partei. Mehrfach bereist das sozial engagierte Arztehepaar die Sowjetunion und verfasst begeisterte Reportagen, sodass es nur folgerichtig ist, dass die jüdische Familie dort Zuflucht vor den Nazis sucht. Die Ankunft in Moskau im Februar 1934 ist für Sonja und ihren Bruder Walter allerdings ein Schock, zumal sie unter erbärmlichen Bedingungen in einem Kinderheim in Iwanowo untergebracht werden.

Stalin Erst 1936 bezieht die Familie eine gemeinsame Wohnung in der Wohngenossenschaft für Politemigranten »Weltoktober«. Doch nimmt der politische Druck 1936/37 stetig zu, auch die Spannungen in der Familie: Während die Mutter hellsichtig, kritisch, schließlich verbittert reagiert, lässt der Vater keine Kritik an Stalin und seinem Terrorsystem gelten. Doch im November 1937 erfasst die Verhaftungswelle auch ihn. Nun beginnen für den Rest der Familie die qualvolle Suche nach Arbeit, das Schlangestehen vor den Gefängnistoren und die Bittgänge zu hochrangigen Politikern und Funktionären. Als alle Bemühungen fruchtlos sind, nimmt sich Sonjas Mutter 1939 das Leben.

Mit ihren 16 und 14 Jahren ganz auf sich gestellt, sind Sonja und Walter gezwungen, selbst für sich zu sorgen. Sonja lässt sich von einem windigen Rechtsanwalt aushalten und wird vom NKWD zur Mitarbeit erpresst. Die psychische Krise mündet in einen Selbstmordversuch. Fast wie eine Rettung erscheint ihr da die Deportation der deutschen Emigranten 1941 nach Kasachstan als Reaktion auf die deutsche Invasion.

In Karaganda lernt Sonja den aus Litauen stammenden Ingenieur Israel Friedmann kennen, die gemeinsame Tochter Ester wird geboren. Während sich Vater und Tochter nach Kriegsende in Vilnius ansiedeln können, wird Sonja erst 1948 freigelassen. Im Juni 1958 kann die Familie schließlich nach jahrelangen Bemühungen in die DDR ausreisen, um vier Monate später die Flucht über Westberlin nach Israel anzutreten. In Tel Aviv nimmt sich Sonja Friedmann-Wolf im Jahr 1986 das Leben.

Schicksal Ihre vor mehr als 50 Jahren verfassten Lebenserinnerungen sind nun im Aufbau-Verlag in einer sorgfältig edierten Ausgabe erschienen, zusammen mit einem bewegenden Nachwort ihrer in Tel Aviv lebenden Tochter Ester Noter sowie zwei Aufsätzen von Reinhard Müller, Historiker und bis 2009 Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, und Ingo Way, Redakteur dieser Zeitung.

Ways biografische Studie zu Sonja Friedmann-Wolf und Müllers aus Moskauer Akten erschlossene Rekonstruktion des Schicksals von Sonjas Eltern – und damit der politischen Illusionen und Desillusionen deutscher Politemigranten in der UdSSR – erschließen den historischen Kontext der Aufzeichnungen.

Die Erinnerungen selbst haben über die Jahrzehnte nichts an Frische eingebüßt. Die traumatischen Erfahrungen werden ohne jede Larmoyanz erzählt. Der Verfasserin gelingt es, die Perspektive des Kindes und jungen Mädchens, das zunächst in den Strudel der Ereignisse hineingezogen und mit dem Heranwachsen zunehmend selbst zur handelnden Person wird, nachvollziehbar zu machen. Stalinismus, und dies vermittelt das Buch mit großer Aufrichtigkeit, war eben nicht nur ein politisches System, sondern auch eine Lebensform, die den Alltag durchdrang. Die Schonungslosigkeit, mit der Friedmann-Wolf die »dunklen« Punkte ihrer Biografie beschreibt – zeitweiser Alkoholismus, Berichte für den NKWD –, machen diese Erinnerungen zu einem außergewöhnlichen Zeugnis.

Moskau Sie bieten aber auch noch eine andere Überraschung, werfen sie doch ein neues Licht auf den berühmten und wegen seines prosowjetischen Reiseberichts Moskau 1937 viel kritisierten Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Sonja hatte ihn schon als Kind kennengelernt und dann in Moskau bei einem Liederabend von Ernst Busch wiedergesehen. Sie bittet Feuchtwanger per Brief um Hilfe, als der Vater verhaftet wird, und später, um die Ausreisegenehmigung in die DDR zu erlangen.

Und er hilft, wie die Herausgeber anhand von Dokumenten belegen: Feuchtwanger schreibt 1939 an den sowjetischen Generalstaatsanwalt Andrei Wyschinski, überweist Geld, unterstützt später die Ausreisepläne und steht bis zu seinem Tod am 21. Dezember 1958 in brieflichem Kontakt mit Sonja. All dies passt nicht ins gängige Bild Feuchtwangers. Höchste Zeit, es zu korrigieren.

Sonja Friedmann-Wolf: »Im roten Eis. Schicksalswege meiner Familie 1933–1958«. Hg. v. Reinhard Müller und Ingo Way. Aufbau, Berlin 2013. 460 S., 24,99 €

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