Essay

Keiner liest für sich allein

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Der großartige Film von Dominik Graf Jeder schreibt für sich allein läuft gegenwärtig in den Kinos. Er fragt buchstäblich danach, wie Schriftsteller nach 1933 in Deutschland in Opposition zum Nationalsozialismus schreiben mussten: allein, bedroht, heimlich, ohne Chance auf eine Veröffentlichung, ohne Austausch, Kritik, Leserschaft, also ohne Wirkung und Resonanz. Die fanden jene Autorinnen und Autoren, die sich nach 1933 der Bewegung anschlossen und von denen heute die meisten zu Recht vergessen sind.

Der Film geht auf das gleichnamige Buch von Anatol Regnier zurück, der das Schicksal von Erich Kästner, Hans Fallada einerseits, Hans Carossa, Hans Johst sowie Gottfried Benn und Ina Seidel und anderen Linientreuen, das Gegeneinander wie oft auch Miteinander von Opposition und Anpassung zeigt.

Bücher und ihre Zirkulation garantieren nicht Demokratie.

Buch und Film handeln von unserer Vergangenheit und sind doch ein Lehrstück für unsere Gegenwart und Zukunft: Alle Diktaturen schränken das Schreiben ein, zensieren es, genau wie sie das Lesen kontrollieren und verbieten wollen. Für Demokratien gilt genau der umgekehrte Satz: Keiner schreibt für sich allein, und keiner liest für sich allein. Die Freiheit zu schreiben, was man will, wie man es will, und zu lesen, was man will, es zu verbreiten, ist für uns so selbstverständlich, dass wir sie nur noch gewahr werden, wenn sie bedroht oder eingeschränkt ist.

Verfolgung und Repression in Russland und im Iran

Aus Russland oder dem Iran erreichen uns nur noch Bücher, die dort nicht mehr verkauft werden dürfen. Einst blühende Literaturen wie die russische und iranische sind durch Verfolgung und Repression zu Wüsten geworden. Wir lesen nur noch ausnahmsweise, was dort geschrieben wird.

In Diktaturen entstehen große Werke nur im Untergrund. »Samisdat« nannte man zu Sowjetzeiten jene Werke, die nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickten, sondern wie Kassiber von Hand zu Hand gingen. Jeder las für sich allein. Alexander Solschenizyns Archipel Gulag erschien Ende 1973 auf Russisch in Paris. Der Nobelpreisträger wurde aus der Sowjetunion ausgewiesen. Sein Werk kam erst 1990 in seinem Heimatland heraus.

Bücher und ihre Zirkulation garantieren nicht per se Demokratie; sie können die Demokratie auch abschaffen. Das meistverbreitete, nur leider nicht rechtzeitig gelesene Buch des 20. Jahrhunderts ist Hitlers Mein Kampf. Nichts zeigt die Zerstörung der Demokratie so sinnfällig wie die Zensur, die Unterdrückung oder Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Vielfalt der Presse und Bücherwelt.

Der amerikanische Historiker James Brophy zeigt in seinem großen Buch über den Büchermarkt und die Entstehung des Buchhandels in Deutschland (das auch in Berlin entstandene Werk erscheint demnächst in den USA), wie im 19. Jahrhundert die Freiheitsbewegungen, erst recht die von 1848, mit einem wachsenden Buchhandel und sich ausbreitenden Verlagswesen einhergingen, mit einer Vielfalt an Titeln, mit Kritik an Tradiertem, mit Novitäten.

Buchmesse in Frankfurt – Drehscheibe der internationalen Bücherwelt

Die Buchmesse in Frankfurt, seit 1949 Drehscheibe der internationalen Bücherwelt, hat in der Vergangenheit auch Länder als Ehrengäste eingeladen, in denen die Demokratie ganz oder weitgehend eingeschränkt ist, 2009 China, fünf Jahre zuvor die arabische Welt, vertreten durch die Arabische Liga. Die eingeladenen Staaten bestimmen wesentlich mit, welche Autorinnen und Autoren eingeladen, welche Bücher vorgestellt, welche Themen, auf welchen Foren diskutiert werden. Das hat der einladenden Messe heftige Kritik eingebracht und zu erbitterten Diskussionen geführt.

Juergen Boos, der langjährige Messe­direktor, hat dagegengesetzt, durch Veranstaltungen, Gespräche und zahlreiche Besuchende könne man mit diesen Ländern und Gesellschaften in einen Dialog eintreten. Das ist ein politisches Argument, das einiges für sich hat. Es ist allerdings keines der Kunst und derer, die sie schaffen: Wer erinnert noch eine große literarische Entdeckung des chinesischen Auftritts 2009?

Heute würden solche Einladungen nicht mehr ausgesprochen, weil die Gefährdungen von Demokratien in Ländern der Europäischen Union selbst greifbarer, spürbarer geworden sind – der diesjährige Ehrengast ist Slowenien, 2024 ist es Italien, während die autoritären Staaten sich immer mehr abriegeln. Die Proteste dagegen wären lauter. Wer käme heute auf die Idee, etwa Aserbaidschan einzuladen, von dem sich Repräsentanten des deutschen Kulturlebens bis vor Kurzem gern und unbekümmert einladen ließen?

Menschen im Iran können Salman Rushdie, wenn überhaupt, nur heimlich lesen.

Ein Gast auf der Buchmesse und dessen Werk zeigt den Zusammenhang von Buch und Demokratie eindringlich: Salman Rushdie, seit Jahrzehnten verfolgt und verfemt, Opfer eines Anschlags. Am letzten Tag der Messe wird er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

In den Ländern, in denen seine Werke verboten sind, wie im Iran, verfolgen die Machthaber Frauen und Männer, die nach Teilhabe, Selbstbestimmung verlangen, nach der Freiheit zu schreiben und zu lesen, was sie wollen. Rushdie können sie, wenn überhaupt, nur heimlich und allein lesen.

Der Autor ist Literaturwissenschaftler und Editor-at-Large des Suhrkamp Verlags.

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