Geschichte

Kampf ums Überleben

Angriff sowjetischer Panzertruppen bei Prochorowka im Zweiten Weltkrieg (1943) Foto: picture alliance / akg-images

Ein epochales Ereignis jährt sich dieser Tage zum 80. Mal. Allein: Wir wissen nicht mehr richtig, was dieses Datum bedeuten kann. Und: Die Deutungen dieses Datums fallen radikal auseinander.

Kriegsende? Tag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus? Welches Deutschland ist genau gemeint? Beginn einer neuen sowjetischen Okkupation? Tag des Sieges? Wer genau hat gesiegt? Tag des Endes der gegenseitigen Vernichtung zweier totalitärer Weltmächte, Nazideutschland und der Sowjetunion? Tag des Endes der Schoa?

In einer Zeit, in der viele den Nachrichtenkonsum wegen einer permanenten Negativität sowie einer fast schon unerträglichen Komplexität auf ein Minimum reduzieren, ist es extrem wichtig, ein Buch wie das von Jochen Hellbeck, Geschichtsprofessor an der Rutgers University in den USA, zu lesen.

In Ein Krieg wie kein anderer geht es um einen neuen Blick auf den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Hellbeck selbst bezeichnet seine methodische Herangehensweise als eine »Revision«. Der konzentrierte Inhalt des fast 700 Seiten starken, elegant und luzide geschriebenen Bandes, in dem allein die Fußnoten und Anmerkungen 100 klein und äußerst dicht bedruckte Seiten in Anspruch nehmen, ist schnell erzählt.

Jochen Hellbeck lässt darin vor allem die angegriffene, nämlich die sowjetische, Seite sprechen, und er zeigt, dass sich die Schoa im Wesentlichen auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR abspielte. So erweitert Hellbeck den Blick auf den Zweiten Weltkrieg – und auf den Holocaust.

Hellbeck macht eine wichtige Feststellung: Die persönlichen Erfahrungen von sowjetischen Menschen spielten jahrzehntelang im Westen keine Rolle – Kommunismus als Herrschaftsideologie des totalitären Staates dominierte die wissenschaftlichen und publizistischen Darstellungen. Heute finden diese vor allem aus einer nationalen Perspektive statt. Die Subjektivität sowjetischer Menschen im Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen, ist heute wissenschaftlich und menschlich mutig.

Zwei Obsessionen, die das Denken und Handeln von Adolf Hitler bestimmten

Jochen Hellbeck arbeitet in seiner Monografie zwei Obsessionen, die das Denken und Handeln von Adolf Hitler bestimmten, heraus. Es handelt sich um Hitlers Antikommunismus (Antibolschewismus) und seinen Antisemitismus. Das sowjetische System vereinte in sich, so Hellbeck, diesen doppelten Hass der Nationalsozia­listen. Die Naziformulierung »jüdischer Bolschewismus« bildete, so Hellbeck, einen Kern der Holocaust-Ideologie und -Praxis.

Hellbeck ist nicht der Erste, der sich mit dem Begriffspaar »jüdischer Bolschewismus« analytisch befasst. Die systematischen Arbeiten von Christoph Dieckmann, der die frühe Genese des Ideologems »jüdischer Bolschewismus« am Fritz Bauer Institut untersucht hat, sind bekannt.

Doch Hellbeck ist der Erste, der das Subjektive, das Persönliche, das Schriftstellerische und auch das Propagandistische der sowjetischen Juden als Antwort auf Naziverbrechen ausarbeitet. Vor ihm war eine solche Subjektivität bereits ein großes Thema, vor allem in dem Meisterwerk von Yuri Slezkine Das jüdische Jahrhundert (2004). Slezkine zeichnete den Weg der Juden zur Sowjetunion, zum Kommunismus, er schrieb gewissermaßen ein liebevolles historisches Poem über diese wichtigen Akteurinnen und Akteure des 20. Jahrhunderts.

Jochen Hellbeck versammelt eher die direkten Reaktionen auf den Krieg und die Judenvernichtung in der Sowjetunion. Und er beschreibt das, was er den »Kampf der Ideologeme« nennt. Vertraute Stalin auf die Macht der Sprache (Schriftsteller), vertrauten Hitler und Goebbels überwiegend auf die Macht der Bilder. Die medial inszenierten »Reichsparteitage« der
NSDAP waren die Quintessenz der Gegenüberstellung der »deutschen Ordnung und Gesundheit« und »jüdisch-kommunistischem Chaos und Krankheit«. Diesem Ziel dienten auch die antisemitischen und antibolschewistischen Ausstellungen der Nazis, die Hellbeck ebenso analysiert.

Als Nazideutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, war es folgerichtig, dass der Befehl »Juden und Bolschewisten vortreten!« (um sofort ermordet, in der Regel erschossen zu werden) Verbreitung fand und sich im kollektiven Gedächtnis der Sowjetbürger der Nachkriegszeit einprägte. Hellbeck beschreibt auch anhand von Primärquellen die Vernichtung der Juden in der ersten von den deutschen Truppen eroberten sowjetischen Großstadt – Minsk.

Die Parole »jüdischer Bolschewismus« bildete einen Kern der Holocaust-Ideologie und -Praxis.

Dem Autor gelingt es – »Sterben wie ein Mensch!«, so der passende Titel eines Unterkapitels – zu zeigen, wie die Minsker Juden, auch jüdische antifaschistische Kämpfer (darunter viele Frauen, die Geschichte von Maria »Mascha« Bruskina ist besonders beeindruckend) ihre Menschenwürde bewahren konnten, die ihnen die antisemitischen Nazi-Mörder und ihre lokalen Gehilfen nehmen wollten. Die Archivbilder, die Hellbeck verwendet, sprechen eine brutale Sprache der Gewalt, und, obwohl man glaubt, viele davon mehrmals gesehen zu haben, sind sie bis heute schwer auszuhalten.

Gegenpropaganda sowjetischer Schriftsteller

Wie die sowjetischen Schriftsteller, darunter Alexei Tolstoi, Konstantin Simonow und vor allem die jüdischen Autoren Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman, sich dem publizistisch entgegenstellten, wie sie über die Vernichtung der Sowjetbürger, darunter Juden, schrieben und welche Gegenpropaganda sie betrieben – diesem Thema widmet Hellbeck viel Platz.

Ist das Thema »Dokumentation der NS-Verbrechen«, darunter auch im Schwarzen Buch des sowjetischen Judentums (1943–45, veröffentlicht 1994), der deutschen Leserschaft bereits bekannt, sind die antisemitischen Motive der sowjetischen Ideologie der 40er-Jahre, die von der Fixierung der Nationalsozialisten auf den »jüdischen Bolschewismus« absehen wollte, bei Weitem weniger präsent. Hellbeck schaut sich intern-sowjetische antisemitische Formeln wie »Abram (Abraham) kämpft von Taschkent (von der Evakuierung her, Anmerkungen des Autors) aus gegen die Deutschen« ausführlich an.

Der antifaschistische Kampf der sowjetisch-jüdischen Schriftsteller hatte starke assimilatorische Züge. Das Jüdische würde – wie alles Nationale, Ethnische sonst auch – eines Tages im Sowjetischen, Internationalen aufgelöst werden. Denn »das sowjetische Volk hat ein Gewissen, wir wollen Gerechtigkeit«. Diese Zeilen Ilja Ehrenburgs wurden in der Zeitung »Roter Stern« einem Gruppenbild der deutschen Offiziere gegenübergestellt, die hinter einer großen Tafel in einem besetzten so­wjetischen Ort saßen. Auf diese Tafel hatten sie geschrieben: »Der Russe muss sterben, damit wir leben.«

Die wenigen Überlebenden von Babyn Jar traten in die Rote Armee ein.

Das sowjetische Volk, auch die jüdischen Überlebenden der Massaker, wollten, das zeigt Hellbeck klar, vor allem eines: kämpfen. Die wenigen Überlebenden von Babyn Jar – dem Massenmord vor allem an Kyjiwer Juden im September 1941 und in den folgenden Monaten – traten in die Rote Armee ein. Das taten weitere Überlebende aus vielen anderen sowjetischen Gebieten auch, viele von ihnen fielen im Kampf gegen Nazideutschland.

Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine

Im letzten Kapitel »Gelöschte Erinnerung« schreibt der Historiker, der den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eindeutig verurteilt: »Viele Beobachter des gegenwärtigen Krieges, der zahlreiche westliche Staaten dazu veranlasst hat, der Ukraine zu Hilfe zu kommen, bezeichnen die Konfrontation mit Russland als Quelle einer neu gefundenen europäischen Einheit und Stärke.

Das mag sein. In einem anderen Sinn hat Europa durch diesen Krieg aber auch Schaden genommen. ›Europa darf seine eigene Geschichte nicht vergessen‹, heißt es in der Entschließung des Europäischen Parlaments von 2019. Was ist das jedoch für eine Geschichte, wenn sie die entscheidende Rolle der Sowjetunion zum Sieg über den National­sozialismus auslöscht?«

Dem ist aus Sicht des Rezensenten nichts hinzuzufügen. Vielleicht nur das: Wir (in Deutschland und in Europa) sollten im Bereich Erinnerungspolitik zukünftig möglichst nichts ohne die Ukraine denken und planen.

Suchen wir, und damit meine ich nicht zuletzt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, in dieser tragischen Zeit einer großen Ratlosigkeit nach einem empathischen, rationalen und ehrlichen intellektuellen Bezugspunkt, führt an dem Buch von Jochen Hellbeck kein Weg vorbei.

Jochen Hellbeck: »Ein Krieg wie kein anderer. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Eine Revision«. Aus dem Englischen von Karin Hielscher. S. Fischer, Frankfurt am Main 2025, 688 S., 36 €

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