Kulturkolumne

Käse-Tasting und orthodox-egalitärer Gottesdienst

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Kulturkolumne

Käse-Tasting und orthodox-egalitärer Gottesdienst

Wie der Tikkun Leil Schawuot für mich eine neue Bedeutung bekam

von Laura Cazés  01.06.2025 11:45 Uhr

Schawuot ist das Fest im jüdischen Kalender, das ich lange nicht richtig verstanden habe. Das Wallfahrtsfest hat sich mir nicht aus der gleichen Logik erschlossen wie andere Feiertage. Wir erinnern uns, verbinden uns über religiöse und kulturelle Praxis mit dem kollektiven Gedächtnis.

Sieben Wochen nach Pessach, daher der Name. Der Tag, an dem das jüdische Volk die Tora empfing – die biblische Begründung, warum wir lernen. Pilgerfest, deshalb die sieben Arten, die wir essen (Weizen, Gerste, Wein, Feigen, Granatäpfel, Oliven und Datteln, Käsekuchen) – es gibt verschiedene Erklärungen. Die Megillat Ruth – weil die Geschichte zur Erntezeit spielt.

Und doch: Die Stränge passten für mich lange nicht wirklich zusammen. Bis ich 2017, im Zuge eines Seminars, an Schawuot in Jerusalem war.

An Erew Schawuot strömten die Menschen zur Kotel

Während über der Stadt die Sonne unterging, strömten an Erew Schawuot die Menschen zur Kotel. Von einem der Hügel aus wirkte die Stadt wie ein Ameisenhaufen, dessen schwarze Masse sich auf ein Zentrum zubewegt. Es sah nicht aus, als würden Menschen einfach nur von Ort zu Ort wandern, sondern eher wie ein Naturphänomen, als ginge ein Sog von der Altstadt aus. Eine Pilgerreise, wie sie Menschen auf der ganzen Welt an ihre heiligen Orte unternehmen – seit Jahrtausenden.

Ich war in dieser Nacht bei einem Käse-Tasting, einem orthodox-egalitären Gottesdienst, einer Lernnacht in einer pluralistischen Jeschiwa, in der über 100 Sessions zu allem Möglichen stattfanden: Woody Allen, Wochenabschnitt, Ruth und Frauen-Solidarität, jüdische Liturgie von Czernowitz bis Bagdad, die talmudische Auslegung der ersten Star Wars-Trilogie. Und ich verabredete mich mit einigen Teilnehmenden am Seminar und einer nichtjüdischen Freundin, die in Jerusalem gerade ihr Volontariat machte, um den Sonnenaufgang und die Gebete an der Kotel zu erleben.

Der Tikkun Leil Schawuot (Tikkun – Reparatur im Sinne von Zusammenfügen) bekam für mich eine neue Bedeutung.

Der Tikkun Leil Schawuot (Tikkun – Reparatur im Sinne von Zusammenfügen) bekam damit für mich eine neue Bedeutung. Das Judentum ist nicht nur ein religiöses Bekenntnis zu Gott, sondern auch ein solidarisches Bekenntnis zur Gemeinschaft. Die Gabe der Tora, die Gebote, sie besiegeln nicht nur den Bund mit dem Göttlichen, sondern auch den zwischen Menschen.

»Wohin du gehst, werde ich dir folgen«, heißt es in der Megillat Ruth

Deshalb ist das Judentum auch nie nur ein Glaubensbekenntnis. Deshalb die Megillat Ruth: »Wohin du gehst, werde ich dir folgen.« Die Verpflichtung, zum Volk des Buches zu werden, heißt: ein Leben lang die Welt lernend zu erleben. Auserwählt ist nicht, wer besser ist, sondern wer bereit ist, den Menschen als wachsendes Wesen zu begreifen – eines, das sich immer auch vom Verständnis des Allmächtigen und Allwissenden abgrenzen muss.

An Schawuot bewegt sich alles auf unseren Kern zu. Ein Kern, der ein Ideal bleibt und dennoch existiert. Der das Judentum zu dem macht, was es ist: eine Verwebung unterschiedlicher Stränge, eine Integration aus Widersprüchen. Eretz Zion, Jeruschalajim und israelische Realität. Diaspora. Suchen und Ambivalenz. Wandern, Lernen, Wachsen – Zurückkehren, Innehalten, Ruhen. Eine Schicksals- und eine Religionsgemeinschaft. Universell und spezifisch. Ein Bekenntnis zu Gott – und immer auch zum Menschsein.

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