Barrie Koskys Inszenierung K. betreibt eine radikale jüdische Aneignung Franz Kafkas und seiner Texte. Seine ersten Aufführungen feierte das Stück zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur.
Atmosphärisch passend zu den Jamim Noraim fällt die Inszenierung aus: Das Gericht aus Kafkas Roman Der Prozeß wird zu großen Teilen in eine Synagoge verlegt. Die Stimme des unsichtbaren Advokaten Huld oder einer kafkaesken Vater-Figur donnert das »Schma!« anklagend hinter einem riesigen gold-barocken Toraschrein heraus, vor dem der zum Tod durch Ertrinken verurteilte Sohn K. ins Winzige schrumpft.
Ein Kol Nidre wie ein Schrei
Doch dann singt sich das Kol Nidre durch den wie zu einem Edvard Munchʼschen Schrei aufgerissenen Mund dieses K., der sich wieder aufgerappelt hat. Gedämpft wie unter Wasser gurgelt es durch ihn hindurch, und doch hören wir nicht nur den Kantor in einer uralt wirkenden Aufnahme, sondern auch den Chor mit dem berühmten Gebet. K.ʼs Körper, der sonst im Stück zerschrieben wird, wird hier vor dem göttlichen Gericht zersungen. Ein Gänsehaut-Moment.
Der K. des Prozeß und der tuberkulöse Franz Kafka in seinem letzten Lebensjahr sind in Barrie Koskys Inszenierung am Berliner Ensemble dieselbe Person – und beide sind zum Sterben verurteilt, ob sie nun Buße tun oder nicht.
Denn Religion ist auch keine Lösung. Beide K.ʼs, in eine Person verdichtet, werden genial gespielt, intoniert, getanzt, geschrien von Kathrin Wehlisch, die mit Körper, Stimme und Mimik alle Emotionen des sterbenden K. auszudrücken vermag: traurig, chaplinesk, liebend, fragend, empört, geil, bedürftig, verloren, verröchelnd, sich aufbäumend, lebenshungrig, verurteilt.
Religion ist auch keine Lösung: Es gibt nicht wenige blasphemische Momente im Stück.
Laut Hannah Arendt gehören Franz Kafka und Charlie Chaplin zur verborgenen jüdischen Tradition der Parias. Wehlisch gibt beiden Gestalt. Es gibt nicht wenige blasphemische Momente in diesem Stück, die nicht den Geschmack aller treffen mögen – etwa wenn K. und seine Geliebte im Aron Hakodesch übereinander herfallen. Oder wenn in der Inszenierung von Kafkas Strafkolonie die Buchstaben der Heiligen Schrift zum Folterinstrument stilisiert werden.
Überhaupt provoziert Koskys radikale Übertragung des modernen, säkular-technokratischen Gerichtsapparates aus Kafkas Prozeß ins Jüdisch-Rituelle viele Fragen. Außer dem rasch wieder verstummten Chor ist nichts zu spüren von dem erleichternden kollektiven Sündenbekenntnis und den gemeinsamen Bitten, welche die jüdische Gemeinschaft an Jom Kippur prägen.
Und doch bietet das Stück auch (alb-)traumhaft poetische Bilder, die Literatur, Theater und Religion in einer verblüffend stimmigen Weise übereinander blenden. Etwa, wenn K. den kanonischen Kafka-Text »Vor dem Gesetz« halb auf Deutsch, halb auf Hebräisch aus einer Torarolle auf der Bima liest, die umschlossen ist von einem Gefängnis aus Gitterstäben. Mit dem Hinweis des Türhüters – »Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn« – rollt K. die Torarolle wieder zusammen.
(Alb-)traumhaft poetische Bilder
Eine ebenso wichtige Rückübersetzung Kafkas ins Jüdische erfolgt über das Jiddische: Kafka hatte 1911 das jiddische Volkstheater von Jizchak Löwy in Prag kennengelernt und begeistert Dutzende von jiddischen Schwänken, biblischen Stücken, Operetten mit jiddischen Liedern und Tanz besucht.
Dafür stehen bei Kosky die Gesangs- und Tanzeinlagen des jiddischen Vaudeville, die er so liebt und seit Langem dem Berliner Publikum nahegebracht hat. Die Begegnungen mit lebendiger jüdisch-jiddischer Volkskultur waren für den religiös ambivalenten, jüdisch geborenen, aber in der deutschen Kultur akkulturierten Aufsteiger Kafka entscheidend. Das Jiddische stand, entgegen dem Hebräisch-Rituellen der Synagoge, für das vital gelebte, alltägliche Jüdische, das ihm in seiner letzten Geliebten Dora Diamant wiederbegegnete, mit der Kafka eine Auswanderung nach Palästina plante, in Berlin wohnte, und die ihn bis zu seinem Tuberkulose-Tod im Sanatorium 1924 begleitete.
Es ist das biografische Setting von Kafkas letztem Lebensjahr, in das hinein Kosky sein vielfach gebrochenes »talmudisches Tingeltangel« rund um Kafkas Prozeß und andere seiner Erzählungen inszeniert. Das kristalline Deutsch der Texte Kafkas wird immer wieder durch ins Jiddische übersetzte Passagen, jiddisch sprechende Onkels, Väter, Wärter oder lebhafte jiddische Song- und Tanzeinlagen gebrochen.
Es ist das biografische Setting von Kafkas letztem Lebensjahr, in das hinein Kosky sein vielfach gebrochenes »talmudisches Tingeltangel« inszeniert.
Selbst Dora singt Schumanns Dichterliebe großteils in jiddischer Übersetzung. Schumanns Lieder nach den Texten von Heine in Jiddisch zu hören, trefflich übersetzt von Anna Rozenfeld und wunderbar gesungen von Alma Sadé, verbindet linguistische Verfremdung mit musikalischem Genuss. Und gibt Heine neben der melancholischen zugleich eine unerhört jüdische Note.
Überhaupt die musikalische Inszenierung und Umsetzung: Unter der Leitung von Adam Benzwi spielen die Musiker und Sänger furios mal jiddischen Tango oder queer-jiddisches Couplet, mal lassen sie Bach samt Fugen swingen wie früher nur Jacques Loussier. Musik und Tanz fallen K. ins Wort, sie unterbrechen den oft quälenden Prozess mit Humor und Pep.
Mit dem elenden Tod von K. endet Kafkas Prozeß. Dieser K. wurde nicht ins Buch des Lebens eingeschrieben. Anders Koskys Inszenierung: Hier erhebt sich K. wieder und tanzt wild noch eine Runde. Da steppt der Bär noch mal, nach drei Stunden. Kosky kennt seine Berliner. So kennen sie ihn: Ovationen. Das Publikum ist begeistert.
K. Ein talmudisches Tingeltangel rund um Kafkas Prozess. Nach Franz Kafka mit Musik von Bach über Schumann bis zu jiddischem Vaudeville. Weitere Termine im Berliner Ensemble im Oktober sowie am 29. und 30. November