Notiert

Jó napot, Tristesse

Marodes Budapest Foto: imago

»Was ist ein Libsi?«, frage ich László. Wir sitzen im Ruin Pub »Szimpla« im alten jüdischen Viertel. Ruin Pubs sind in Budapest der Renner: alte, unrestaurierte Hallen, die als Bars genutzt werden. An den Wänden hängt allerlei Kram zur Dekoration, Fahrräder schweben neben Bildern von Amateurkünstlern oder Fotografien, in den Ecken stehen alte Radios und ostalgische Nachttischlampen.

»In Ungarn bist du einer«, antwortet László nach kurzem Zögern. Libsi bedeutet: liberaler Jude. Während Kirche und Regierungsführung in Ungarn traditionell eher mit konservativen Werten assoziiert werden, gilt alles, was mit Sozialpolitik oder Wirtschaft zusammenhängt, als links, hier gleichbedeutend mit liberal. Von Finanzen zu Juden ist es dann antisemitischer Logik zufolge nur ein Katzensprung. Liberal und offen denkende Menschen sind in Ungarn als jüdisch verpönt – egal, ob sie wirklich Juden sind oder nicht.

xenophobie Antisemitismus und Xenophobie seien sehr weit verbreitet, erzählt László. Die Neonazipartei Jobbik mit aktuell zwölf Prozent der Sitze im Parlament ist vielen inzwischen nicht mehr radikal genug. Vor Kurzem hat sich die »Ungarische Morgenröte« gegründet, die sich nicht nur namentlich bewusst an die griechische Neonazipartei »Goldene Morgenröte« anlehnt, die noch aggressiver als Jobbik die »verlorenen ungarischen Territorien« zurückerobern und den in Ungarn angeblich grassierenden Zionismus bekämpfen will. Die Partei ist zu den Parlamentswahlen im April zugelassen. László fürchtet einen Erfolg.

Eine Frau kommt an unseren Tisch und bietet uns für 200 Forint – knapp 70 Cent – eine Karotte an. Da in Ungarn überall Rauchverbot gilt, wurde der Karottenverkauf als Alternative zum Rauchen in diesem Laden zum Running Gag. Schräg gegenüber von uns sitzt eine etwa 50-jährige Frau alleine an ihrem Tisch und dreht sich im schummrigen Licht einer Nachttischlampe eine Zigarette. Sie sitzt stark nach vorne gebeugt. László merkt, dass ich sie beobachte. Ich sage ihm, dass mir ihr trauriger Blick aufgefallen ist. »Dadurch sieht sie sehr typisch ungarisch aus«, sagt er.

obdachlose Wir verlassen das Lokal und laufen aus dem jüdischen Viertel auf die Hauptstraße Rákóczi út Richtung Blaha-Lujza-Platz. Wir gehen an Obdachlosen vorbei, die es offiziell nicht mehr gibt in diesem Land. Um genau zu sein, seit das ungarische Parlament Ende September 2013 beschlossen hat, dass Obdachlose in Ungarn mit Gefängnis bestraft werden können. Sie ziehen die Decken über den Kopf, damit sie weniger auffallen.

Am Blaha steigen wir in eine Straßenbahn ein, die uns zur Haltestelle Oktogon bringt. Die noble Andrássy-Straße verläuft von hier. Typisch für Budapest sind die maroden Fassaden der imposant wirkenden Altbauten in der gesamten Innenstadt. Die Gebäude sehen wie eine Mischung aus Wiener Prunk und Berliner Shabby Chic aus. Kaum aus der Straßenbahn raus, beobachten wir, wie zwei Polizisten einen Obdachlosen abführen. László, der in Budapest als Sozialarbeiter arbeitet, wird wütend: »Die Regierung tut nichts, um ihnen zu helfen«, sagt er. »Dabei ist die Strafverfolgung von Obdachlosen wesentlich teurer als die gezielte Investition in Präventivmaßnahmen.« Ich nicke verständnisvoll. Offensichtlich ist László auch ein Libsi.

Film

Shira Haas ist Teil der Netflix-Serie »The Boys from Brazil«

Die israelische Schauspielerin ist aus »Shtisel« und »Unorthodox« bekannt

 26.11.2025

Kulturkolumne

Was bleibt von uns?

Lernen von John Oglander

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025

Hollywood

Scarlett Johansson macht bei »Exorzist«-Verfilmung mit

Sie mimte die Marvel-Heldin »Black Widow« und nahm es in »Jurassic World: Die Wiedergeburt« mit Dinos auf. Nun lässt sich Scarlett Johansson auf den vielleicht düstersten Filmstoff ihrer Laufbahn ein

 25.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  24.11.2025

Nachruf

Das unvergessliche Gesicht des Udo Kier

Er ritt im Weltall auf einem T-Rex, spielte für Warhol Dracula und prägte mit einem einzigen Blick ganze Filme. Udo Kier, Meister der Nebenrolle und Arthouse-Legende, ist tot. In seinem letzten Film, dem Thriller »The Secret Agent«, verkörpert er einen deutschen Juden

von Christina Tscharnke, Lisa Forster  24.11.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025