Nachruf

Ironiker der Geschichte

Kindheit zwischen Hakenkreuz und Judenstern: Harry Mulisch (1927–2010) Foto: dpa

»Ich bin der Zweite Weltkrieg«, hat Harry Mulisch über sich selbst gern gesagt. Gemeint damit war seine Kindheit zwischen Hakenkreuz und Judenstern. Der Vater war NSDAP-Mitglied und Arisierer in den besetzten Niederlanden, die Mutter eine emigrierte Frankfurter Jüdin. Den Nazismus hat Mulisch seinem Vater nie vorgeworfen, im Gegenteil: Dank der Parteimitgliedschaft konnte er Frau und Sohn vor der Deportation in die Gaskammern bewahren.

sinn für widersprüche Eine solche Grunderfahrung bewahrt vor dem Denken in einfachen Schwarz-Weiß-Kategorien. Und so zeichnen sich Mulischs von Kritik und Publikum gleichermaßen gut angenommene Bücher durch ihren Sinn für tragische Ironie und Widersprüche aus. Vor allem sein bekanntester Roman Das Attentat, dessen Verfilmung 1986 einen Oscar als beste ausländische Produktion erhielt: Erzählt wird dort von den unbeabsichtigten Folgen der Hinrichtung eines niederländischen NS-Kollaborateurs durch Widerständler. Die Leiche des Getöteten wird vor dem Haus einer unbeteiligten Familie abgelegt, die daraufhin von den Deutschen aus Rache erschossen wird. Nur der jüngste Sohn, die Hauptfigur des Buchs, überlebt. Nach dem Krieg geht er der Geschichte nach und stößt dabei auf Verwicklungen wie in einer klassischen griechischen Tragödie. Die Widerständler haben den Nazi getötet, um Kameraden zu retten; die Leiche deponierten sie vor dem Elternhaus des Protagonisten, um Nachbarn zu schützen, die Juden versteckt hatten. Und der Hingerichtete, dessen Sohn der Held des Buches kennenlernt, war kein Monster, sondern eine gebrochene Gestalt.

Harry Mulisch war auch Journalist. Preisgekrönt wurden seine Reportagen vom Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961, bei dem er auch Hannah Arendt kennenlernte, mit der er bis zu ihrem Tod befreundet blieb. Seine niederländischen Landsleute, denen er als ihr größter Gegenwartsautor galt, zeichneten ihn nicht nur mit zahlreichen Preisen aus, sondern benannten auch den Planetoiden Nr. 10251 ihm zu Ehren »Mulisch«.

Vergangenen Samstag, am 30. Oktober, ist Harry Mulisch im Alter von 83 Jahren in Amsterdam gestorben.

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  21.11.2025

TV-Kritik

Allzu glatt

»Denken ist gefährlich«, so heißt eine neue Doku über Hannah Arendt auf Deutsch. Aber Fernsehen, könnte man ergänzen, macht es bequem - zu bequem. Der Film erklärt mehr als dass er zu begeistern vermag

von Ulrich Kriest  21.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  21.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  20.11.2025

Kino

»Fast ein Wunder«

Das israelische Filmfestival »Seret« eröffnete in Berlin mit dem Kassenschlager »Cabaret Total« von Roy Assaf

von Ayala Goldmann  20.11.2025

Gespräch

»Der Überlebenskampf dauert an«

Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch, Israels Krieg gegen den palästinensischen Terror und die verzerrte Nahost-Berichterstattung in den deutschen Medien

von Detlef David Kauschke  20.11.2025

»Jay Kelly«

In seichten Gewässern

Die neue Netflix-Tragikomödie von Noah Baumbach startet fulminant, verliert sich dann aber in Sentimentalitäten und Klischees

von Patrick Heidmann  20.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  20.11.2025