Schreibwettbewerb »L’Chaim«

In my Jewish Bag

Im kommenden Jahr soll der Debütroman der Berliner Autorin Dana Vowinckel erscheinen. Foto: Gregor Matthias Zielke

Schreibwettbewerb »L’Chaim«

In my Jewish Bag

Dana Vowinckel hat gewonnen. Wir veröffentlichen hier ihren Siegertext

von Dana Vowinckel  20.10.2022 07:21 Uhr

Sie dürfen, wie im mittelschlechten Lifestylemagazin, auf der Seite vor den Kopenhagen-Reisetipps, in meine jüdische Handtasche schauen. Alles, was ich hier mache, ist jüdisch. Wenn ich schreibe, ohne auch nur einmal Jude zu sagen, schreibe ich jüdische Texte. Also ist auch meine Handtasche Jude.

Also ist in meiner jüdischen Handtasche ein jüdischer Füller. Türkise Tinte, die über jüdische Füllerfinger läuft. Die Finger schrei­ben über jüdisches Leben. Im Füller in meiner Handtasche lebt also jüdisches Leben. Mein Füller sagt Kaddisch. Mein Füller hat es einfach in seiner Identität als Mittelmann. Er muss keine Meinung haben, er hat einfach meine.

vanillepudding Wenn ich meine Meinung äußere, ist es eine jüdische Meinung, selbst wenn ich einfach sage, dass ich keinen Vanillepudding mag. In meiner Handtasche ist kein Vanillepudding. In meiner Handtasche ist Malabi, das habe ich mal in Israel gegessen. Will ich Malabi einfach lieber mögen, weil das ein Statement ist?

Wussten Sie, dass man in manchen deutschen Regionen Puddingschnecken Eiterbrillen nennt? Wenn man etwas kaschern kann, kann man es dann auch trej­fen? Können wir Eiterbrillen trejfen?

Wussten Sie, dass man in manchen deutschen Regionen Puddingschnecken Eiterbrillen nennt? Wenn man etwas kaschern kann, kann man es dann auch trej­fen? Können wir Eiterbrillen trejfen? In meiner Handtasche ist Beruhigungsmittel. Jüdisches Beruhigungsmittel. Jüdisches Penicillin, wissen Sie, ist Hühnersuppe. Jüdisches Beruhigungsmittel sind Babka und Benzos.

Wow. Jüdischer Humor. Die Leute lieben jüdischen Humor. In meiner Handtasche ist ein jüdischer Witz. Oder doch ein Judenwitz. Es ist ein Judenwitz, noch aus meiner Zeit am gutbürgerlichen Gymnasium. Es geht um Schornsteine. Die Kippa in meiner Tasche drückt meine Sympathie mit Philosemiten aus. Es ist für sie ja voll gefährlich, alle paar Jahre eine Solidaritätskippa zu tragen, man sollte sich mit ihnen solidarisieren. Also trage ich sie an den Solidaritätstagen, damit niemand denkt, ich wäre tatsächlich jüdisch.

Klezmer In der Handtasche ist Klezmer. Ich hab’ uns allen einen Gefallen getan und Klezmer versteckt. Oh, und schauen Sie mal, da ist noch Mazza, von Pessach. Sie nennen das Passah. Und Sabbat. In meine Handtasche sabbert bitte niemand.

In meiner Handtasche wiegt sich ein Minjan liebevoll zu Jedid Nefesch, wenn er nicht gerade an Altersarmut denkt.

In meiner Handtasche ist jüdisches Wasser. Ich pinkle koscher. Obwohl ich schon mal Cheeseburger gegessen habe. Keine Angst, der ist nicht mehr in der Tasche.

In meiner Handtasche sind Diskriminierungserfahrungen. Jedes Mal, wenn ich über sie rede, kommt ein Antisemitismusbeauftragter im Schlaf. Die Handtasche und ich waren schon viel unterwegs. Als wir in Ravensbrück waren, wollte ich gerne in sie kriechen, als meine Mitschülerin immer wieder sagen musste, dass auch ich dort verbrannt wäre. Geheimtipp: jüdische Handcreme. Habe ich immer dabei, sie ist wie die jüdische Mutter, die ich nicht habe, sie schaut, dass ich nicht vertrockne, nährt und gießt mich. Ich bin handcremelinear, das ist, wenn die Mutter Handcreme ist und nicht Jüdin. 20 Prozent auf die erste Bestellung mit Code BUZZWORD. Nochmal 20 Prozent mit Code AMBIGUITÄTSTOLERANZ. Jetzt ist die Handcreme günstiger als die Mutter.

asiamarkt In meiner jüdischen Handtasche ist Kram aus dem Asiamarkt, an dem ich vorbeikam, weil ich mit dem Davidsternring nicht durch die Palästina-Demo auf dem Hermannplatz wollte. Ich kaufe Hoisin-Sauce, eine süße Schüssel, bezahle mit meiner Judenkreditkarte. In der App im Handy in der Handtasche ein Video der Demo: Drecksjude, verpiss dich. Hab’ mich doch schon in den Asiamarkt verpisst.

Da ist der Schmerz darüber, nie irgendwo hinzugehören. Der Schmerz, die Tasche schon zu schleppen, und trotzdem fragen alle: Wo sind die Koffer? Sind sie gepackt? Ja, sind sie. Es ist vor allem Heimweh drin. Auch in meiner Handtasche ist ziehendes Heimweh, manchmal packe ich es aus und denke, ich bin krank, wühle nach Babka und Benzos.

In meiner jüdischen Handtasche ist eine Geschichte: die meines Onkels Raphael G., Sohn des Wissenschaftlers Norman G. Die Geschichte der Schriftrollen vom Toten Meer und die Geschichte des jüdischen Streits darum, wer sie schrieb. Die Geschichte, eigentlich, von Mythos und Nationalismus, aber auch die Geschichte von vielen Internet-Alias-Figuren, die mein Onkel kreierte, um die Theorie meines Großvaters zu verteidigen.

Modernes Das alles erlebte ich, als ich die Grundschule besuchte. Vom Ranzen in die Handtasche hob ich die Scham, mich nicht erklären zu können, wie erklärt man, was man nicht versteht. Wie erklärt man etwas so Modernes, das so dicht verwoben ist mit der Geschichte. Die Geschichte, die in einem ukrainischen Dorf begann, 20 Jahre, bevor es von der SS plattgemacht wurde. Verließ mein Ururgroßvater es, damit sein Urenkel E-Mails unter falschem Namen verschicken konnte, um meinen Großvater zu verteidigen?

Ich, Kind der Schickse, habe nichts begriffen, nur, dass es unterschiedliche Welten gibt, dass sie, obwohl sie rund sind, keine überschneidenden Venn-Diagramme bilden.

In die Bibliothek darf man seine Handtasche nicht mitnehmen, man muss sie einschließen, es ist erleichternd, aber den ganzen Juden in der Handtasche gefällt es nicht so gut im Schließfach, also mache ich früh Feierabend.

Feierabend an einem Freitag bedeutet Schabbat, ich sitze bei Josh, dem Rabbi, und seiner Frau Noémi. Josh sagt, ist ja klar, dass das die richtige Theorie ist, mit den Schriftrollen, das wissen doch alle, dafür hätte man keine E-Mails gebraucht.

Da ist der Schmerz darüber, nie irgendwo hinzugehören. Der Schmerz, die Tasche schon zu schleppen, und trotzdem fragen alle: Wo sind die Koffer? Sind sie gepackt? Ja, sind sie.

Ich hätte das gern Norman G. erzählt, doch er ist tot. Er würde nicht in die Handtasche passen, also bitte, irgendwann ist auch mal Schluss.
In der Tasche: Eve, der tote Hund meiner Großeltern. »Even the dog was neurotic«, brüllt die Großmutter.

Chicago In meiner Handtasche ist Chicago: sind die Skyline, das Hancock Center, der blaue, blaue See. Ist die Brosche, die ich von Irmgard geerbt habe, die Auschwitz überlebte und eine Freundin meiner Großeltern war, ich habe mit ihr Pink Lemonade getrunken, und erst, als ich Jahre später den Kopf in meiner Handtasche vergrub, die Brosche wiederfand, begriff ich die Vorsicht, mit der meine Großmutter Irmgards Hand hielt.

In meiner jüdischen Handtasche ist ein warmer Frühling 2019, in dem ich jemanden kennenlernte, wir schliefen miteinander, als es schon hell war, und in meiner Handtasche ist eine Lüge, ich habe gesagt, ich kenne alle Coen-Brüder-Filme, dann nahm er mich mit nach Hause, der Sex war gut, sein Penis nicht beschnitten.

In meiner Handtasche ist seitdem mein Goy Toy. Mein Goy Toy hat die Lüge nicht enttarnt. Er hat aber etwas anderes für eine Lüge gehalten, nämlich eine Wahrheit. In meiner Handtasche ist die Wahrheit, dass die Geschichte über meinen Onkel nicht erfunden ist, mein Goy Toy hat die Geschichte gegoogelt und einen Wikipedia-Eintrag gefunden, der People vs G. heißt. Ich liebe meinen Onkel sehr, er fährt mit seinem Klapprad durch New York und ist noch lustiger als Fran Lebowitz.

Aus meiner Handtasche quellen Zärtlichkeit, Zynismus, Zurückgezogenheit. Sogar Zurückgezogenheit quillt, wenn es jüdische Zurückgezogenheit ist.

What’s in my Jewish bag? Jewish me. Surprise.

Verwendung mit freundlicher Genehmigung der Autorin

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