Lyrik

»Ich bin in Sehnsucht eingehüllt«

CD mit Xavier Naidoo und Sarah Connor Foto: Just records Babelsberg

Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, diese »Gegend, in der Menschen und Bücher lebten«, liegt heute in der Westukraine. Sie gehörte zu Rumänien, als Selma Meerbaum-Eisinger am 5. Februar 1924 geboren wurde, deren Eltern noch Österreicher gewesen waren. Deutsch und Jiddisch sprach das Mädchen zu Hause. Der Alltag forderte Rumänisch. In der Schule lernte sie Französisch und Latein.

Russisch wurde ihr 1940 aufgezwungen, als die Bukowina im Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugeschlagen wurde. Dem zunehmenden Antisemitismus widerstand Selma ab 1939 in der linkszionistischen Jugendgruppe Hashomer Hatzair. »Chasak Veamatz« hieß deren Motto: Sei stark und erstarke!

Zur selben Zeit begann die 15-Jährige Gedichte zu schreiben. Mit Lyrik schuf sie eine Gegenwelt, als die Politik und die veränderten Lebensumstände zu Verunsicherung und Identitätsverlust zu führen drohten. Poesie als inneres Exil und Sprache als schützendes Tuch: »Ich bin in Sehnsucht eingehüllt«, heißt es in einem ihrer bekanntesten Poeme.

Das Leben der Juden in Rumänien galt nichts mehr, nachdem im Juni 1941 das mit dem Balkanstaat verbündete Nazideutschland in die Sowjetunion einmarschierte. Im »blutigen Juli« 1941 kam es zu einem Pogrom in Czernowitz. Drei Tage lang wurde gemordet, vergewaltigt, gebrandschatzt. Am 7. Juli 1941 schrieb Selma ihr Gedicht »Poem«:

Poem »Ich möchte leben./Ich möchte lachen und Lasten heben/und möchte kämpfen und lieben und hassen/und möchte den Himmel mit Händen fassen/und möchte frei sein und atmen und schrein./Ich will nicht sterben. Nein!/Nein./Das Leben ist rot,/Das Leben ist mein./Mein und dein./Mein.«

Im Juni 1942 wurden Selma Meerbaum-Eisinger und ihre Eltern zur Zwangsarbeit in das deutsche Arbeitslager Michailowka in der Ukraine abtransportiert. Ein Todesurteil: 50.000 Bukowiner Juden starben dort bis 1944. Der Maler Arnold Daghan schrieb in Michailowka heimlich ein Tagebuch, in dem er auch Selmas Sterbetag und Tod dokumentierte: Dürftig in Stofffetzen gehüllt, wird das tote Mädchen am 16. Dezember 1942 aus ihrem Verschlag im stallähnlichen Lager gehievt. Gestorben an Entkräftung, ohne Medikamente vom Fleckfieber dahingerafft.

Selma Meerbaum-Eisingers Gedichte aber haben überlebt. Auf wundersame Weise. Als am 28. Juni 1942 die Häscher kamen, um Selma und ihre Eltern zu deportieren, arbeitete das junge Mädchen an ihrem Gedichtband Blütenlese: »Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben«, kann sie noch hastig unter die Verssammlung setzen, die »Leiser Fichmann zum Andenken und Dank für viel unvergesslich Schönes in Liebe gewidmet« war. Ein Nachbar übergibt Leiser das Büchlein, der es bewahrt, bis er sich 1944 zur Flucht nach Eretz Israel entschließt. Die Gedichte lässt er bei einer Freundin Selmas zurück. Leisers Fluchtboot wird torpediert, er ertrinkt.

Odyssee Im Rucksack der Freundin überstehen Selmas Gedichte eine Odyssee: zu Fuß, mit dem Pferdewagen, auf den Dächern von Zügen, durch Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, Österreich, Deutschland und Frankreich, bevor sie 1948 in Israel ankommen. Geschrieben in der Sprache der Mörder, stoßen die Verse dort lange auf keine Gegenliebe.

Bis in Rehovot Selmas ehemaliger Klassenlehrer Hersch Segal in der DDR-Anthologie Welch Wort in die Kälte gerufen, einen Auszug aus »Poem« liest. Segal macht Selmas Freundin ausfindig und druckt auf eigene Kosten 400 Exemplare der Gedichte. Eines schenkt die junge Germanistikprofessorin Bianca Rosenthal 1978 der Heidelberger Lyrikerin Hilde Domin. Sie setzt sich, anfangs vergeblich, für die Verbreitung der Gedichte ein. »Zu unbekannt«, winken die Verlage ab.

1980 drückt Domin den Gedichtband dem Stern-Journalisten Jürgen Serke in die Hand: »Gedichte zum Weinen schön. Mach was draus.« Serke bringt sie im selben Jahr bei Hoffmann & Campe heraus. Der Band erlebt zahlreiche Auflagen. Die Poeme werden vertont, Herbert Grönemeyer singt sie, Thomas D rappt sie. Hörbücher werden mit Selmas Versen besprochen. »Gedichte zum Weinen schön« – heute gehören sie zur Weltliteratur.

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