Auszeichnung

Holzschnittartige Tendenzliteratur

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Holzschnittartige Tendenzliteratur

Unser Autor erklärt, warum der Roman »Eine Nebensache« von Anfang an nicht preiswürdig war

von Enno Stahl  19.10.2023 09:56 Uhr

Ich bekam Eine Nebensache von Adania Shibli vergangenes Weihnachten von einem entfernten Bekannten geschenkt. Der schmale Band, eher eine Erzählung als ein Roman, ist atmosphärisch sehr dicht, formstreng und dramaturgisch einwandfrei geschrieben – aber mit einer merkwürdigen Schlagseite, weshalb ich mich über dieses Präsent etwas wunderte. War mein Bekannter womöglich ein Feind Israels?

Der Roman dreht sich um eine historisch verbürgte Episode aus der Anfangszeit des Staates Israel, und zwar die Vergewaltigung und Ermordung eines arabischen Mädchens durch einen Trupp israelischer Soldaten im Jahr 1949. Im zweiten Teil der Geschichte begibt sich eine palästinensische Wissenschaftlerin auf Spurensuche in diesem Fall, wobei sie im Rahmen ihrer Recherchen von offizieller israelischer Seite immer wieder mit Schikanen konfrontiert wird.

Shiblis Werk stand auf internationalen Shortlists, in Deutschland wurde es im Sommer für den »LiBeraturpreis«, eine Auszeichnung für Bücher aus dem Globalen Süden, nominiert. Einer der Juroren, der WDR-Journalist Ulrich Noller, trat damals aus Protest gegen diese Entscheidung aus der Jury aus.

Soll Shibli womöglich der Preis nachträglich aberkannt werden?

Zu diesem Zeitpunkt erzeugte das alles wenig Aufmerksamkeit. Nun aber, nach dem barbarischen Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten, wurde heftige Kritik laut, weshalb die für den 20. Oktober geplante Preisverleihung verschoben wird. Soll Shibli nun womöglich der Preis nachträglich aberkannt werden? Manche sprechen sich dagegen aus. Wenn das Buch im Sommer preiswürdig war, müsse es das auch jetzt noch sein. Derartige Reaktionen seien einfach nur Schnellschüsse, vergleichbar mit der pauschalen Verdammung russischer Kunst nach Putins Überfall auf die Ukraine, sagen einige.

Tatsächlich müsste das Buch für einen solchen Schritt von demselben Geist geprägt sein wie die jüngst in Israel verübten Massaker. Das ist aber sicherlich nicht der Fall, es ist nicht antisemitisch. Eine Nebensache enthält keine biologistische Komponente, wiederholt keine anti­jüdischen Stereotypen. Aber das Buch ist durch und durch anti-israelisch. Shibli beschreibt Israel als totalitären Terrorstaat. Am Ende wird die Wissenschaftlerin grundlos von einer Militärstreife erschossen.

Die Botschaft lautet also, dass heute wie schon 1949 Palästinenser willkürlich ermordet werden. Man kann so etwas behaupten. Der Wahrheit entspricht das jedoch nicht. Es ist eine drastische Schwarz-Weiß-Sichtweise, die den ästhetischen Wert des Buches deutlich schmälert. Solche Tendenzliteratur mit ihren holzschnittartigen Täter-Opfer-Zuweisungen und ihrem unglaubwürdigen Finale kann kein echtes Kunstwerk sein, das den Tag überdauert. Allein deshalb war die Nominierung von Anfang an ein Fehler. Unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse ist sie zudem schwer erträglich.

Der Autor ist Schriftsteller und Kritiker. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Sanierungsgebiete« (Verbrecher Verlag) und der Essayband »Realismus und Engagement« (PapyRossa Verlag).

Adania Shibli: »Eine Nebensache«. Aus dem Arabischen von Günther Orth. Berenberg, Berlin 2022, 120 S., 22 €

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