Wenn die Worte fehlen, beginnt die Musik. In diesen Tagen, 80 Jahre nach der Befreiung, gibt es viele Momente der Sprachlosigkeit. Die Musikerinnen und Musiker des Israel Philharmonic Orchestra und der Münchner Philharmoniker füllen das Schweigen mit Konzerten, die tief berühren. Weil hier im Kleinen zelebriert wird, was im Großen so schwerfällt: Zusammenhalt, Empathie, der »Traum vom Frieden«.
So auch der Untertitel des Kammerkonzerts am Sonntag im ausverkauften Festsaal des Münchner Künstlerhauses. Es war der Auftakt einer Reihe, die die Orchestermitglieder bis 11. Mai für Auftritte von München nach Dortmund und Dresden führt.
»Wir atmen zusammen. Schalom!«
An der Violine im Münchner Künstlerhaus Saida Bar-Lev, Stellvertretende Konzertmeisterin des Israel Philharmonic Orchestra. Das, was die drei deutschen und drei israelischen Musikerinnen und Musiker an diesem Vormittag gemeinsam auf der Bühne servieren, sei keine leichte Kost, eher »ein Hauptgang nach dem anderen«, meint Bar-Lev. Sehr intensiv. Doch: »Wir atmen zusammen. Schalom!« Tatsächlich ist es den Musikern geglückt, eine Mischung zu finden, die die unterschiedlichen Gefühle spiegelt, die mit der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror vor 80 Jahren einhergehen.
80 Jahre nach der Befreiung gibt es viele Momente der Sprachlosigkeit.
Tiefe Trauer, Schmerz und Angst tönen aus Ilse Fromm-Michaels »Musica larga« für Klarinette und Streicher (1944); dann wieder unheimliche Freude, Lebenslust und Wucht aus Felix Mendelssohn-Bartholdys Streichquartett D-Dur op. 44 Nr. 1 (1838). Verzweiflung, Niedergeschlagenheit aus Viktor Ullmanns Streichquartett Nr. 3 op. 46 (1943), ehe Dmitrij Schostakowitschs Klavierquintett g-Moll op. 57 (1940) wieder Zuversicht und Hoffnung schenkt.
»Musik ist die einzige universelle Sprache, die uns verbindet. Sie stützt uns«, beschreibt Saida Bar-Lev, was an diesem Vormittag wohl alle spüren. Die Energie, die Bar-Lev, Alexandra Gruber (Klarinette), Alexander Möck (Violine), Amir van der Hal (Viola), Thomas Ruge (Violoncello) und Paul Rivinius (Klavier) gemeinsam erzeugen, kommt von Herzen. Gegenseitig beflügeln sie einander, reißen mit, wühlen auf. Gedanken entstehen: Was der Mensch erschaffen kann. Was der Mensch zerstören kann. Fragiles Glück. »Wir leben in sehr extremen Zeiten – wie die Komponisten damals. Das zeigt, wie wichtig es ist, in jeder Zeit weiter zu musizieren, zu schreiben, zu malen, zu tanzen«, sagt Saida Bar-Lev.
Gegen Sparen an der Kultur
Genau deshalb dürfe jetzt nicht an Kultur gespart werden, betont auch Alexandra Gruber. »Die Kunst, die Kultur sind das, was uns im Innersten zusammenhält. Einen jeden für sich – und die Gemeinschaft.« Für sie als Musikerinnen der beiden Orchester sei es »eine riesengroße Ehre«, gemeinsam spielen zu dürfen. »Das, was wir auf der Bühne tun, könnte ein Beispiel dafür sein, wie Frieden möglich ist. Diese Brücken, die bestehen, muss man pflegen, immer wieder neuen Mörtel hineingeben, damit nichts bröckelt«, unterstreicht sie.
Vieles aus ihrer Arbeit als Musiker sei übertragbar auf das Funktionieren einer Gemeinschaft. Am wichtigsten vielleicht: die Fähigkeit, sich aufeinander einzulassen. »Das müssen wir in einem Orchester immerzu«, erzählt Gruber. »Jeder spielt seine Version vor, man hört einander zu, respektiert die Ideen des anderen – und findet eine gemeinsame Lösung. In meinem bisherigen Berufsleben habe ich es noch nie erlebt, dass das nicht geglückt ist und jeder einfach für sich seinen Stiefel gespielt hätte. Man findet immer einen gemeinsamen Weg.« Dazu müsse man allerdings bereit sein, ein bisschen zurückzustecken. »Ganz so wie im richtigen Leben.«
»Musik ist die einzige universelle Sprache, die uns verbindet.«
Saida Bar-Lev
Sie durfte schon häufiger mit dem Israel Philharmonic Orchestra spielen. Zum ersten Mal 1995, beim »Requiem der Versöhnung«, das Komponisten aus 15 teils verfeindeten Nationen geschrieben haben. Mit Gänsehaut erinnert sich die Klarinettistin an die Aufführung in der Stuttgarter Liederhalle. Sie mittendrin – genau wie Saida Bar-Lev. »Bei der Vorbereitung auf das heutige Konzert sind wir darauf gekommen, dass wir damals das erste Mal gemeinsam auf der Bühne musiziert haben«, erzählt sie strahlend. »Ich gebe einfach nicht diesen Glauben auf, dass Musik und Kunst den Zusammenhalt stärken.« Musik, das sei ein »Seelengesundmacher«.
Wenn es dann noch Werke von Menschen wie Ilse Fromm-Michaels (1888–1986) sind, weiten sich Horizonte. Wie Fromm-Michaels die Jahre des Grauens erlebt hat, in denen ihr Mann entlassen, sie selbst vom Konzertleben ausgeschlossen wurde, kann man nachlesen. Wer ihre Musik hört, der empfindet die Erfahrungen der Komponistin nach. Wenn die Worte fehlen? Beginnt die Musik.
Konzerte zum Tag der Befreiung:
Donnerstag, 8. Mai, 19.30 Uhr, Münchner Isarphilharmonie. Übertragung am 8. Mai ab 20.03 Uhr auf BR Klassik sowie MDR Klassik, NDR Kultur und radio3
Freitag, 9. Mai, 18 Uhr, Kreuzkirche Dresden
Samstag, 10. Mai, 19.30 Uhr
Sonntag, 11. Mai, 16 Uhr, Konzerthaus Dortmund