Diskurs

Gehobener Judenhass

Auch Nobelpreisträger sind nicht frei von Ressentiments: Günter Grass gewann mit seinem Israel-Gedicht viele neue Fans. Foto: dpa

Die Kluft zwischen Erkenntnissen der empirischen Antisemitismusforschung und den Meinungen großer Teile der Bevölkerung (inklusive politischer Vertreter und zum Teil auch Akademiker) ist groß: Eine zu enge Definition von Antisemitismus, die nicht den Fakten entspricht, ist die Grundlage dafür, dass Antisemitismus oft entweder als ein Randgruppenphänomen oder als ein bloßes Vorurteilssystem konzeptualisiert wird. Dadurch wird zum einen die historische Realität der Judenfeindschaft als kulturhistorisch verankertes Weltdeutungssystem missachtet, zum anderen die Brisanz des aktuellen Antisemitismus bagatellisiert.

Man stößt daher in den letzten Jahren bei jeder geführten Antisemitismusdebatte (etwa bei den Diskussionen zur Beschneidung, zu Günter Grass, Jakob Augstein oder zum Gaza-Krieg 2014) auf einen eklatanten Widerspruch: Einerseits belegen Untersuchungen zum aktuellen Antisemitismus, dass dieser weltweit zugenommen und sich qualitativ verändert, das heißt intensiviert und radikalisiert hat, dass das judenfeindliche Ressentiment keineswegs nur in ungebildeten und sozial benachteiligten Randgruppen existiert und dass Jüdinnen und Juden sich zunehmend mit ihren Ängsten alleingelassen fühlen.

Tabus Die Internetkommunikation zeigt, dass die Tabuisierungsschwelle, Verbal-Antisemitismen zu artikulieren, signifikant gesunken ist und dass auch in der massenmedialen Nahostberichterstattung antisemitische Stereotype vermehrt ihren Ausdruck finden – ohne dass energischer Widerspruch artikuliert würde. Im öffentlichen Kommunikationsraum ist ein Mangel an Sensibilität in Bezug auf einen Stereotypen transportierenden Sprachgebrauch bei gleichzeitigem Unwillen zur Skandalisierung oder Zurückweisung dieser Äußerungen zu registrieren. Die Tendenz, aktuellen Antisemitismus zu leugnen, zu verharmlosen und als »politische Meinungsfreiheit« zu bezeichnen, nimmt zu.

Während der rechtsradikale und extremistische Gewalt-Antisemitismus einheitlich verurteilt wird, stoßen verbal-antisemitische Äußerungen in der Manifestation des Anti-Israelismus/Antizionismus aus der Mitte der Gesellschaft, vor allem dann, wenn sie von gebildeten Personen des öffentlichen Lebens artikuliert werden, kaum auf Kritik. Die Erwähnung eines gebildeten und gar linken Antisemitismus führt oft sogar zu ungläubigem Staunen.

Denker Dabei zeigt die Geschichte, dass Antijudaismus stets aus den Schreibstuben der Gelehrten kam, bevor er sich flächendeckend ausbreitete. Auch der rassistische Antisemitismus des 19. Jahrhunderts wurde auf allen Ebenen der Gesellschaft und auch von hochgebildeten Persönlichkeiten artikuliert.

Es waren Philosophen wie Hegel (das Judentum würde »im Kote wohnen«) und Jakob Friedrich Fries (»Völkerkrankheit«), Schriftsteller wie Ernst Moritz Arndt (»Pest unseres Volkes«) und Theodor Fontane (»schreckliches Volk«), Journalisten wie Wilhelm Marr (»Parasiten«, »verjudete Tagespresse«), Komponisten wie Richard Wagner (»aufhören, Jude zu sein«), Politiker wie der Hofprediger Adolf Stoecker (Unterzeichner der »Antisemitenpetition«) und Historiker wie Heinrich von Treitschke (»Die Juden sind unser Unglück«). Bis 1945 war Judenfeindschaft Alltagsgut, auf Postkarten, in Romanen, in Artikeln, in Parteiprogrammen, in Märchen; Antisemitismus war normal, habituell, wurde offen und ohne jede Bedenken kommuniziert.

Judenfeindschaft folgt bis heute dem Muster, die Schuld für alles Übel in der Welt den Juden anzudichten. Das antisemitische Ressentiment richtet sich, trotz aller sozialpolitischen Veränderungen, immer gegen die jüdische Existenz an sich – und modern adaptiert gegen das ostentative Symbol jüdischen Lebens, Israel.

Die Israelisierung der Judenfeindschaft ist dabei längst ein internationales Phänomen, das trotz aller Aufklärungs- und Bildungsarbeit nach der Schoa den tradierten Judenhass reaktiviert. Die antiisraelischen Äußerungen, die heute kommuniziert werden, führen die uralte Weltdeutungssemantik weiter: Statt zu sagen »Juden sind das Übel in der Welt«, sagt man heute »Der jüdische Staat Israel gefährdet den Weltfrieden«.

stereotyp Der antiisraelische Antisemitismus jedoch erfährt noch immer nicht die breite Ablehnung, die benötigt wird, um dieser zunehmenden Judäophobie effektiv begegnen zu können. Wenn etwa ein Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge als »Zeichen gegen den Krieg«, aber nicht als antisemitisch bewertet wird, dann hat die Justiz ein Klassifikations- und Definitionsproblem mit aktuellem Antisemitismus. Niemand muss sich dann über die Zunahme von Antisemitismen im Internet oder über Pressekommentare mit judäophoben Stereotypen (wie Rachsucht, Kindermord, Meinungsdiktat) wundern.

Insgesamt zeigt sich, dass primär der – oft mit sprachlicher Camouflage kommunizierte – Verbal-Antisemitismus im Alltag die kulturell noch immer tief verankerte Judenfeindschaft rekodiert und sie dadurch im kollektiven Bewusstsein hält. Nicht der (mehrheitlich verurteilte und verpönte) Vulgärantisemitismus ist heute besonders gefährlich für die Zivilgesellschaft, sondern die als »Kritik an Israel« verbreitete gebildete Judenfeindschaft im öffentlichen Kommunikationsraum.

Die interdisziplinäre Antisemitismusforschung versucht, durch kritische Reflexion und Fakten das Bewusstsein für die Gefahren dieser altneuen Judenfeindschaft zu sensibilisieren: Politik und Zivilgesellschaft müssen sich der lange verdrängten Erkenntnis stellen, dass der aktuelle Antisemitismus in Deutschland (und Europa) ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist, das alle gesellschaftlichen Kräfte zu mehr Engagement mobilisieren sollte.

Die Autorin ist Linguistin an der TU Berlin und Herausgeberin des Bandes »Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft« (mit Beiträgen von Matthias Küntzel, Olaf Glöckner, Lars Rensmann, Martin Kloke, Esther Schapira, Georg M. Hafner, Samuel Salzborn u.a.). Nomos, Baden-Baden 2015, 318 S., 59 €

Berlin

»So monströs die Verbrechen der Nazis, so gigantisch dein Wille, zu leben«

Leeor Engländer verabschiedet sich in einer berührenden Trauerrede von Margot Friedländer. Wir dokumentieren sie im Wortlaut

von Leeor Engländer  15.05.2025

Mirna Funk

»In Tel Aviv bin ich glücklich«

Seit einem Jahr lebt die Berliner Autorin in Israel. Nun hat sie einen Reiseführer geschrieben. Mit uns spricht sie über Lieblingsorte, Israel in den 90er-Jahren und Klischees

von Alicia Rust  15.05.2025

Yael Adler

»Mir geht es um Balance, nicht um Perfektion«

Die Medizinerin über die Bedeutung von Ballaststoffen, darmfreundliche Ernährung als Stimmungsaufheller – und die Frage, warum man trotzdem auch mal eine Bratwurst essen darf

von Ayala Goldmann  15.05.2025

Basel

Israel und Österreich im zweiten ESC-Halbfinale

Beim ESC werden die letzten zehn Finalplätze vergeben. 16 Länder treten an, darunter Yuval Raphael für Israel. Auch JJ aus Österreich und das Duo für Deutschland, Abor & Tynna, stehen auf der Bühne

 15.05.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Tassen, Leggings, Mähnen: Auf der Suche nach dem Einhorn

von Nicole Dreyfus  14.05.2025

Zahl der Woche

30 Jahre

Fun Facts und Wissenswertes

 14.05.2025

Antisemitismus

Kanye Wests Hitler-Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 14.05.2025

Mythos

Forscher widerlegen Spekulation über Olympia-Attentat 1972

Neue Recherchen widersprechen einer landläufigen Annahme zum Münchner Olympia-Attentat: Demnach verfolgten die Terroristen die Geschehnisse nicht am Fernseher. Woher die falsche Erzählung stammen könnte

von Hannah Krewer  14.05.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 15. Mai bis zum 22. Mai

 14.05.2025