enzyklopädie

Galerie der Judenhasser

Wolfgang Benz und das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung haben sich ein Großprojekt vorgenommen: ein Handbuch des Antisemitismus, das nach gegenwärtigem Stand sieben Bände umfassen soll. Es gab zwar bisher im englischen Sprachraum ähnliche Bemühungen, das Wissen über Antisemitismus enzyklopädisch zu bündeln, jedoch waren diese weit weniger umfangreich und auch mit einer geringeren Systematik angelegt. Das Handbuch könnte somit zum Ausgangspunkt für eine Neureflexion des Standes der Antisemitismusforschung werden und wesentliche Erkenntnisse bisheriger Forschungen bündeln. Kürzlich ist nun – nachdem der erste Band das Feld »Länder und Regionen« behandelt hat – der zweite Band erschienen. Sein Gegenstand: Personen. Es werden insgesamt 686 Biografien aus aller Welt und von der Spätantike bis in die Gegenwart vorgestellt. Neben Antisemiten finden sich darin auch, wenngleich in deutlich geringerer Anzahl, Porträts von prominenten Gegnern des Antisemitismus (so etwa von Theodor Herzl, Moses Mendelssohn, Sigmund Freud oder Alfred Dreyfus), die selbst wiederum Objekte von antisemitischen Angriffen geworden sind.

Lerneffekt Der Band zeichnet sich insgesamt durch editorische Genauigkeit aus und ermöglicht weiterführende Recherchen durch entsprechende Literaturhinweise am Ende der einzelnen Porträts. Der Lerneffekt, den die Lektüre des Bandes bietet, ist groß: Durch entsprechende Querverweise deuten sich Kooperations- und Rezeptionsnetzwerke an, und man stößt immer wieder auf Personen, die noch nicht im eigenen (freilich subjektiven) Blickfeld waren oder über die das Wissen nur sehr aufwendig in so komprimierter Weise zusammenzutragen wäre. Erfreulich ist, dass auch eine Reihe von prominenten Antisemitinnen Aufnahme in den Band gefunden hat.

Der solide Gesamteindruck erübrigt aber nicht die Kritik am Detail. So fragt man sich beispielsweise, warum – völlig zu Recht – Martin Walser einen Eintrag bekommen hat, man aber keinen zu Martin Hohmann oder Jürgen Möllemann findet. Ebenso unklar bleibt, warum zwar die Päpste Pius IX. und Pius XII. aufgenommen wurden, aber zum Beispiel gerade Papst Benedikt XVI. unerwähnt bleibt. Und obgleich eine Reihe der »Klassiker« des Sozialismus mit Eintragungen versehen wurden, fehlen beispielsweise die zu Hugo Chávez oder Evo Morales. Oder der zu Ulrike Meinhof.

Vernichtungspotenzial Aber auch Muammar al-Gaddafi oder Osama bin Laden sucht man vergeblich. Die in diesem Zusammenhang zu erwartenden Einträge zu Yassir Arafat und Mahmud Ahmadinedschad sind hingegen enthalten, wobei der zu Ahmadinedschad allerdings einer der wenigen wirklich schlechten Beiträge des Bandes ist. Denn Ahmadinedschad als einer der einflussreichsten und gefährlichsten Antisemiten der Gegenwart erscheint hier fast wie eine Randfigur des politischen Geschäfts, sein antisemitischer Vernichtungswille wie ein Problem falscher Übersetzung. Bei der Kritik ist klar, dass die wissenschaftliche und politische Kontroverse über die Bedeutung der jeweiligen Person umso ausgeprägter sein dürfte, je weiter ihre Aktivität in die Gegenwart reicht, was auch Benz in seinem Vorwort andeutet. Dies mag für einige der Vorgenannten gelten, aber Ahmadinedschad ist doch zweifelsfrei eine der wenigen Personen, die gegenwärtig das größte antisemitische Vernichtungspotenzial verkörpern. Und das sollte auch kenntlich gemacht werden.

Was bleibt von dem Band? Er versammelt zweifelsfrei in fulminanter Breite und Tiefe fundiertes Wissen über antisemitische Personen aus Geschichte und Gegenwart und ist beispiellos. Durch die Vorstellung von mehreren hundert Antisemi- tinnen und Antisemiten erleichtert er den personenorientierten Forschungszugriff ungemein. Und was auch zu betonen ist: Der Personen-Band dürfte konzeptionell der schwierigste Band des gesamten Handbuch-Projektes gewesen sein. Er ist also gelungen, trotz der Kritik.

Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 2: Personen. De Gruyter/Saur, Berlin 2010. 934 S., 159,95 €.

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025