Literatur

Ferse ab? Ja natürlich!

Dürfen wir Kindern Aschenputtel und Co. im Original noch zumuten? Auf jeden Fall, findet unsere Autorin, die selbst Mutter von zwei Kindern ist

von Nicole Dreyfus  24.01.2024 14:44 Uhr

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Dürfen wir Kindern Aschenputtel und Co. im Original noch zumuten? Auf jeden Fall, findet unsere Autorin, die selbst Mutter von zwei Kindern ist

von Nicole Dreyfus  24.01.2024 14:44 Uhr

Winterzeit ist Märchenzeit. Dann schießen sie alle wieder aus dem Boden – oder genauer gesagt über Bildschirm oder Bühne. Gemeint sind all die Theaterstücke, die Fernsehfilme und Klassiker, die dem programmmüden Publikum zu Gemüte geführt werden. Exakt zu dieser Jahreszeit wird immer wieder versucht, Kindern Märchen in allen Varianten näherzubringen. Als ob diese den winterlichen Zauber überhaupt nötig hätten, um ihren ganz eigenen Zauber oder – anders formuliert – ihre ganz eigene Kraft zu entfalten.

Märchen brauchen kein kons­truiertes Schmuckwerk. Sie sind zeitlos und sprechen auch jüdische Eltern an, die mit ihren Kindern gemeinsam in die europäischen Erzähltraditionen eintauchen wollen. Denn Märchen sind die faszinierendste literarische Gattung – voller Mythen und Tabus. Ob Klassiker wie Rapunzel, Aschenputtel oder unbekanntere Geschichten wie die von der Gänsemagd und ihrem Hengst Fallada: Märchen sind »die Primzahlen der Literatur«, sie bleiben nicht ableitbar und rätselhaft. Und vielfach sind sie einfach grauenhaft schrecklich. Doch dazu gleich mehr.

Wer sie gern erzählt, genießt auch ihre narrative Logik und Moral.

Ich entschied mich vor wenigen Wochen dafür, die jährlichen Drei Haselnüsse für Aschenbrödel in der Online-Mediathek zu ignorieren, und ging stattdessen an einem Sonntagnachmittag mit meiner sechsjährigen Tochter ins Theater. Angekündigt war Aschenputtel. Meine Tochter kannte die Geschichte – schließlich gehören Märchen meiner Meinung nach nicht nur zur Grundausstattung eines jeden Bücherregals. Vor allem aber sind sie Teil unseres Kulturerbes, auch als europäische Juden, davon bin ich überzeugt.

»Das ist grausam« oder »So etwas darf man Kindern nicht zumuten!«

Meine Tochter folgte gebannt dem Geschehen auf der Bühne. Spätestens aber nach der Pause machte sich Empörung im Publikum bemerkbar. Kommentare wie »Das ist grausam« oder »So etwas darf man Kindern nicht zumuten!« waren zu hören. Die Rede war von der Szene, als die »böse« Stiefmutter ihren Töchtern Zeh und Ferse abschnitt, damit diese in den verlorenen Schuh kamen.

Mir hallte noch gerade ein wenig der Satz nach: »Hau den Zeh ab, wenn du Königin bist, brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen!«, und so konnte ich mir im ersten Augenblick ein leises Lachen nicht verkneifen. Dann hörte ich einige Reihen hinter mir weitere Kommentare. Das Stück sei nicht mehr zeitgerecht. Das hätte man viel mehr an das 21. Jahrhundert adaptieren müssen. Hätte man das tatsächlich machen müssen? Stellen Märchen nicht vielmehr ein Textgenre dar, das weder zeitlich noch örtlich gebunden ist?

Brigitte Boothe, Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin sowie emeritierte Professorin der Universität Zürich, sagt dazu Folgendes: »Wenn Eltern ihre Kinder mit den Märchen der Brüder Grimm vertraut machen möchten, sollten sie an den Originaltexten nichts ändern. Die Dramaturgie ist oft auf drastische Sanktions- oder Racheakte hin angelegt. Da ist es äußerst befriedigend, wenn die Antagonisten komplett unter die Räder kommen. Die narrative Moral ist auch im Alltag zu Hause, etwa wenn wir empört sind.«

Wer also Märchen goutiert und überhaupt gern erzählt, genießt auch ihre narrative Logik und Moral. »Das ist das Vergnügen, unter anderem auch an unverstellt archaischen Wünschen«, so Boothe weiter – wohl wissend, dass es sich dabei immer um die Welt der Imagination handelt. Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass es grausam ist, wenn Hänsel und Gretel im Wald ausgesetzt werden, weil es zu Hause nichts mehr zu essen gibt. Und bei Aschenputtel müssen nicht nur die Fersen dran glauben, den Stiefschwestern werden am Schluss auch die Augen ausgehackt.

Müssen wir die Kinder vor diesem historischen Barbarismus schützen?

Da frage selbstverständlich auch ich mich: Kann man das Kindern zumuten, oder müssen wir sie vor diesem historischen Barbarismus schützen? Darüber wurde schon zu Zeiten der Gebrüder Grimm gestritten. Heute gibt es dazu zwei Lager: Das eine hält Märchen aufgrund ihrer grausamen Inhalte und überkommenen Rollenmodelle für ungeeignet für die kindliche Entwicklung.

Das andere ist der gegenteiligen Ansicht. Die Schrecken, die in Märchen vorkommen, beispielsweise Krieg, Armut und Hunger, sind auch in unserer Welt vorhanden. »Ängste sind Teil des kindlichen Seelenlebens. Aber die Geschichten sind dynamisch. Sie mögen um Not und Misere und Gewalt kreisen, aber es kommt (oft) zum Happy End. Das ist beglückend. Jetzt ist es schlimm, aber kann gut ausgehen. Das hilft«, bringt es Boothe auf den Punkt.

Meine Tochter beispielsweise fürchtete sich jahrelang vor dem Wolf in Rotkäppchen. Wir mussten sogar ganze Seiten im Märchenbuch abdecken, damit sie nicht an die Geschichte erinnert wurde. Anfänglich machte ich mir Vorwürfe, aber letztlich lernte meine Tochter, mit ihren Ängsten umzugehen und diese zu verarbeiten. Aber vor allem lernte sie – ganz allein – auch zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden, ohne einen seelischen Schaden davonzutragen.

Woher kommen Märchen überhaupt?

Woher kommen Märchen überhaupt? Es dauerte lange, bis sie als Gattung ernst genommen wurden. Im Mittelalter waren zwar die Ritterepen beliebt, irgendwie große Märchen für Erwachsene. Überhaupt waren die Erwachsenen lange Zeit die Zielgruppe. Literarisch salonfähig wurde das Genre erst um 1700 in Frankreich. Man kann es sogar auf das Jahr genau datieren. 1697 veröffentlichte der Pariser Jurist und Kulturbeamte Charles Perrault, der das Schloss von Versailles mitgeplant hatte, die Sammlung der Zaubermärchen Contes de Fées. Diese waren der Nichte des Sonnenkönigs Louis XIV. gewidmet.

In Deutschland dauerte es ein ganzes Jahrhundert länger. Erst mit der Romantik, die sich auf alles Ungekünstelte, Volkstümliche und Verschollene stürzte, wuchs das Interesse an Märchen. Gesammelt haben sie die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm im Auftrag von Clemens Brentano und Achim von Arnim. Beide hatten diese Geschichten allerdings nicht bei der ländlichen Bevölkerung gefunden, wie gern kolportiert wird, sondern bei gutbürgerlichen Töchtern, die die Märchensammlung des Franzosen Charles Perrault auf ihrem Nachttisch liegen hatten.

Auch Perrault hat die Volksmärchen nicht erfunden, sondern gesammelt. Sie seien so alt wie die Menschheit, resümiert Michael Maar in seinem Essay »Hexengewisper«. »Die Spur der Märchen verliert sich im Frühnebel der Zeit«, so der Literaturwissenschaftler. Märchenmotive finden sich schon im ältesten literarischen Dokument der Menschheit, dem babylonischen Epos um den König Gilgamesch. Und heute bedient sich halb Hollywood daraus, schreibt Maar. Welterfolge wie Star Wars oder Shrek seien ohne Märchen nicht möglich gewesen, ganz zu schweigen von Harry Potter, einem der größten Erfolge in der Geschichte der Literatur – und bei Weitem nicht minder grausam.

Maar ist überzeugt, dass das Geheimnis ihres Erfolges in den »portierten Glutkernen« stecke. Gemeint sind damit menschliche Tabus oder Traumata, die durch die Geschichte entstanden sind. Ein Beispiel dafür ist der Kindskannibalismus bei Hänsel und Gretel, der in einer Art und Weise behandelt werde, sodass dieses Tabu durch das gute Ende der Geschichte erträglich gemacht werde.

Die Stiefmutter oder die Hexe darf immer die Böse sein

Auch die Tatsache, dass eben nicht die Mutter die Böse ist, sondern die Stiefmutter oder die Hexe – und die Letztere darf immer die Böse sein –, wirke entlastend. »Somit wird ein an sich harter Stoff in eine Schale gepresst, der das ganze transportabel macht.« Das sei für Maar mitunter einer der Gründe, weshalb Märchen bis heute so erfolgreich seien.

Dem Literaturwissenschaftler fallen aber noch weitere Gemeinsamkeiten in den Märchen auf. Oft sind sie naiv und grausam, unlogisch und unglaubwürdig. Kein anderes literarisches Genre trete die Alltags- und Seelenlogik dermaßen mit Füßen, hebt Maar in »Hexengewisper« hervor, wobei er fast ganz auf eine psychologische Interpretation verzichtet. Stattdessen fragt er nach ihrem historischen Kontext. Natürlich kann das bereits zitierte Rotkäppchen als Metapher des Erwachsenwerdens verstanden werden – gern wird das rote Käppchen als Zeichen der Menstruation gedeutet und der Wolf als Sinnbild der männlichen Sexualität, die lockt.

Märchen als Kinderunterhaltung waren immer schon umstritten. Der Briefwechsel zwischen Achim von Arnim und Wilhelm Grimm von damals zeigt, dass die märchenpädagogische Diskussion in Bezug auf die Darstellung und Funktion von Grausamkeit schon seit 200 Jahren geführt wird. »Schwarze Pädagogik« nannte das in den 70er-Jahren Katharina Rutschky. Die 2010 verstorbene Publizistin prägte schon damals diesen Begriff und meinte damit Strömungen der bürgerlichen Pädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen bereits Debatten über das Problem des Grausamen im Märchen geführt wurden.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts betrachtete man Märchen gern auch soziologisch

So gab es damals Bedenken, Märchen könnten Kindern bedenkliche Fantasien einflößen, die im Gegensatz zu den erzieherischen Zielen standen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts betrachtete man Märchen gern auch soziologisch und verurteilte infolgedessen vor allem die veralteten und klischeehaften Rollenbilder, personifiziert zum Beispiel im schlafenden Dornröschen, das nach 100 Jahren von einem Prinzen wachgeküsst wird.

Dass ebendieser Prinz, zumindest in der Fassung von Perrault, Dornröschen zuvor im Schlaf vergewaltigt hat, ist weniger bekannt, verweist aber auf ein weiteres strittiges Merkmal vieler Märchen: das Moment des Grausamen. Genau dieses macht heute vielen Eltern und Erziehern zu schaffen.

Wir sollten uns aus der Komfortzone wagen, in der unser Nachwuchs aufwächst.

»Denkt man darüber nach, welche berühmten Kinderbücher harmlos sind, fällt einem wenig ein. Heidi und Harry Potter sind Waisenkinder, Pippi Langstrumpf ist Halbwaise, Alice im Wunderland trifft auf die Herzkönigin, die ständig ›Kopf ab‹ sagt. Kindergeschichten operieren mit dem Charme des Naiven, aber die offenen und latenten Themen sind existenziell«, sagt Psychoanalytikerin Booth.

Wie bei allem gelte auch hier: Eltern entscheiden selbst für ihre Kinder. Die Gesellschaft ist heute ganz allgemein eher zurückhaltend. Unsere Kinder wachsen überbehütet auf, vor allem jüdische Kinder. Das mag seine Gründe haben, aber wir sollten uns dem stellen. Vor allem aber sollten wir auch einen Schritt aus unserer Komfortzone wagen und die Nestwärme – oder eher Gluthitze –, in der unsere Kinder aufwachsen, hinterfragen. Dafür können wir ihnen durchaus ein paar Märchen zumuten, wenn möglich ohne gut gemeinte Zensur. Denn nur so lernen sie, auch mit Hindernissen umzugehen.

Die »jiddische Mamme«

Die seit Jahrhunderten besungene »jiddische Mamme« täte Gutes daran, zum Wohl ihres Kindes den Klammergriff etwas zu lösen. Dafür eignen sich Märchen als Einstieg zur Loslösung hervorragend. Wer also gern weiterhin den Abenteuern von Rotkäppchen und seinen Artverwandten lauscht oder vor dem bösen Wolf zittert, der oder die freut sich immer über das Happy End.

1812 hatten die Gebrüder Grimm ihre Gesammelten Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht – ein Riesenerfolg. Es ist bis heute das meistverkaufte Buch Deutschlands gleich hinter der Bibel. Märchen dienen dazu, dass gewisse Menschheitserfahrungen nicht in Vergessenheit geraten. Erträglich werden diese Botschaften durch das Happy End. Das ist der Pakt, den die Zuhörer mit dem Märchenerzähler eingehen. Von ihrer Faszination büßen diese Geschichten dadurch nichts ein – auch nicht nach 200 Jahren.

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