Samy Molcho

»Es war eine andere Welt«

Der Pantomime über seine Kindheit in Israel, die Anfänge in Deutschland und warum ihn das Judentum bis heute prägt

von Louis Lewitan  17.09.2020 12:55 Uhr

Im Jahr 1960 gab Samy Molcho seinen ersten abendfüllenden Pantomimeabend, der ihn international bekannt machte (hier 1984 auf der Bühne). Foto: ullstein bild - RDB / Georg Ebert, Berlin

Der Pantomime über seine Kindheit in Israel, die Anfänge in Deutschland und warum ihn das Judentum bis heute prägt

von Louis Lewitan  17.09.2020 12:55 Uhr

Herr Molcho, Sie sind Israeli und Österreicher zugleich. Wie definieren Sie Ihre Identität?
Ich war schon immer ein Kosmopolit. Ich bin froh, in Österreich zu leben, und dankbar, dass man mich hier akzeptiert, gar liebt. Zugleich bin ich Israeli und habe nie meine Staatsangehörigkeit aufgegeben. Identität ist das, was du in der Kindheit erfährst. Ob Sitten, Speisen, Gerüche, Lieder, das alles wird Teil deiner Selbst. Das, was dich besonders prägt, ist immer die Kultur, in der du aufwächst. Bei mir war es vor allem die israelische. Ich werde deshalb nie ausschließlich ein Österreicher sein.

Was ist jüdisch an Ihnen?
Alles außer der Orthodoxie. Diese hält die Tradition zwar seit Jahrtausenden aufrecht, hat aber mit meiner »Jüdischkeit« nichts gemein. Die orthodoxe Sichtweise ist in sich geschlossen und grenzt alles aus, was außerhalb ihres Universums geschieht. Ich finde diese geistige Enge schrecklich. Alles, was die Tradition aufrechterhält, ist mir wichtig, solange es nicht fanatisch wird.

Ein Beispiel?
Es heißt: »Du sollst das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen.« Was damit gemeint sein soll, ist Interpretationssache. Aber die Angst von Strenggläubigen, dass milchig und fleischig irgendwie miteinander in Berührung kommen könnten, ist für mich bereits eine Form von Fanatismus. Mein Menschenverstand rebelliert dagegen. Ich liebe den jüdischen Geist, die humanen und offenen Seiten davon, die mein Denken und Handeln prägen.

Was ist denn das Jüdische an Ihrem Denken?
Alles infrage zu stellen. Wer Humor hat, der hinterfragt. Da fällt mir ein Witz ein. Zwei Juden treffen sich. Sagt der Blau zum Grün: »Du fragst mich gar nicht, wie es mir geht!« Antwortet der Grün: »Nu, wie geht es dir?« Sagt der Blau: »Ach, frag nicht.« In der jüdischen Erziehung werden die Kinder dazu ermutigt, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Jüdisches Denken ist genau dieser Mut, Fragen zu stellen und das Selbstverständliche zu hinterfragen. Dieser Spannungsbogen ist das, was den Geist weiterentwickelt. Wir haben heute den Staat Israel, die jüdische Identität wird also nicht mehr verloren gehen. Dafür wurde die jüdische Identität um die israelische erweitert.

Sie sind 1936 im damaligen Palästina geboren. Welche Rolle nahm die Religion zu der Zeit ein?
Ich bin im jemenitischen Viertel, unweit vom Schuk HaCarmel, in Tel Aviv aufgewachsen. In unmittelbarer Nähe zu unserer Wohnung gab es drei Synagogen. Ich musste am Schabbat gar nicht in die Synagoge gehen, weil ich den Gesang vom Bett aus hören konnte. Wir Kinder verbrachten viel Zeit damit, Fragen aus der Hebräischen Bibel zu beantworten. Immer ging es darum, wo was geschrieben steht, wer was gesagt hat oder ob es nicht vielleicht so oder anders war. Es war unsere Version von Kreuzworträtsel, und das hat richtig Spaß gemacht. Ich habe das Alphabet in der Synagoge gelernt, und die lag gegenüber unserem Haus. Bei den Orthodoxen ging es streng zu. Ich habe es als eine Art Ghetto in Erinnerung. Die jemenitische Erziehung hingegen war viel offener.

Sie meinen, ein geistiges Ghetto?
Nicht nur das, es war auch die Art, sich zu kleiden, zu wohnen, zu präsentieren. Die Orthodoxen gingen nicht aus ihrer Umgebung heraus. Wenn sie in ein israelisches Museum gingen, musste der gesamte Bereich, in dem die Evolution gezeigt wurde, gesperrt werden. Was soll ich mehr dazu sagen? Ich frage mich: Warum habt ihr Orthodoxen Angst, diesen Teil der Geschichte zu sehen? Habt ihr Angst, überzeugt zu werden? Diese totale Abgrenzung stellt für mich eine Gefahr dar, die mich stark befremdet. Dieser Teil des Judentums hat mit mir als Jude null zu tun.

Wie religiös ging es zu Hause zu?
Damals konnte man nicht außerhalb der Religion leben. Zu Hause haben wir die Tradition gehalten, aber nicht koscher gelebt. Wenn meine Urgroßmutter kam, brachte sie sogar ihr eigenes, koscheres Geschirr mit. Rosch Haschana und Jom Kippur waren natürlich ebenfalls ganz besondere Tage.

Wo ist Ihre Urgroßmutter geboren, wo kommt Ihre Familie her?
Meine Urgroßmutter kam aus Bulgarien und ist sefardischer Abstammung. Als Kind sprach ich mit meiner Mutter Ladino, mit meinem Vater Hebräisch. Er war ein Halutz, ein echter Pionier, der Tel Aviv mitaufgebaut hat. Meine Mutter kam ebenfalls in Bulgarien zur Welt, wuchs aber in Ägypten auf. Ihr Vater war dort einer der Direktoren der größten Zuckerfabrik. Sie wuchs in einem Haus mit Personal auf und besuchte das Lycée Francais, eine Eliteschule. Sie sprach Französisch, Italienisch, Arabisch und selbstverständlich Jiddisch. Als sie zu Besuch bei einer Tante in Israel war, hat sie meinen Vater getroffen. Sie haben sich verliebt und geheiratet. Unsere Familie hatte also immer Wurzeln in Israel.

Was vermissen Sie am meisten aus dieser Zeit?
Die Offenheit und die Ehrlichkeit. Israel wurde von intellektuellen Europäern oder Russen aufgebaut. Sie alle kamen nach Israel mit einer zionistischen Vision. Es ging um Ideale, die sie in Israel verwirklichen wollten. Alles war klein, auf engem Raum, es war ein anderes Miteinander, es gab ein anderes Vertrauen zueinander. Meine Sozialversicherungsnummer war unter 500.000. Daran erkennen Sie, wie klein Israel damals war. Tel Aviv war ein Zentrum für Künstler. Es gab vielleicht ein oder zwei Cafés, wo man sich traf. Jeder hat jeden gekannt. Es war eine andere Welt.

Das Verhältnis zum eigenen Körper, das Körperbild, unterscheidet sich sehr zwischen orthodoxen und weltlichen Juden. Wie erklären Sie sich diesen Unterschied?
Wir Sabres sind in Israel auf der Straße aufgewachsen, wir trauten uns alles zu. Ich war offen und frech, manchmal übertrieben selbstsicher. Die Anzahl der orthodoxen Juden war sehr klein, ihr Einfluss sehr gering. Man sagte, der osteuropäische Jude in der Diaspora geht an der Wand entlang, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er musste sich kleinmachen, um ja nicht zu provozieren. Im Gegensatz dazu gingen die sefardischen Juden aufrecht, sie genossen bis zu ihrer Vertreibung viele Rechte. Anders ging es bei den Aschkenasim in der Synagoge zu, wo emotional debattiert wurde. Das schätze ich sehr am Judentum. Im Gedächtnis bleibt nicht, was du lernst, sondern, wie du das Erlernte erlebst und was es emotional in dir auslöst. Je engagierter du lernst, je emotionaler du diskutierst, je mehr du gestikulierst, umso mehr bleibt im Gedächtnis hängen. Emotionalität, Engagement und Körperlichkeit in der Diskussion helfen, sich besser an Dinge erinnern zu können.

Der Pioniergeist von einst wird von älteren Israelis vermisst …
Absolut! Als damals Ben Gurion gesagt hat, wir bauen Kibbuzim in der Negevwüste, da hat niemand gefragt, wo kommt das Wasser her und auf welcher Matratze schlafen wir. Wir sind als junge Leute erst einmal losgegangen. Wir haben gebaut, experimentiert und waren innovativ. So sind auch die Tröpfchenbewässerungsanlagen für Gemüse und Obst entstanden. Nachhaltigkeit war schon damals ein Thema. Wir haben immer neue Wege und Lösungen gefunden, so haben wir den Unabhängigkeitskrieg 1948 gewonnen. Ich war damals keine zwölf Jahre alt.

Zwei der größten Pantomimen sind jüdisch, Sie und Marcel Marceau. Wie erklären Sie sich das?
Es steht bei uns im Talmud, jedes unnötige Reden ist schlecht, jedes Schweigen ist gut. Ein weiser Mensch weiß, wann er schweigen und wann er reden sollte. Übrigens, Marcel Marceau war während des Krieges im Untergrund und hat viele jüdische Kinder gerettet, indem er sie in die Schweiz gebracht hat. Darüber hat er nie gesprochen, erst viel später kam das heraus.

Wie beschreiben Sie Ihre Kunstform, die Pantomime?
Ein Jude hat mich einmal gefragt: »Was machst du?« Ich habe ihm gesagt, ich spiele ohne Worte. Da hat er geantwortet: »Ein Jude, der nicht spricht, das ist a Kunst!«

Eine Kunst, bei der man sich keine langen Texte merken muss.
Definitiv! Ich hatte in der Schule immer Probleme mit dem Auswendiglernen. Das war beim Theater eine echte Hürde. Ich konnte dem Lehrer genau erklären, was der Dichter mit seinem Gedicht sagen will, aber beim Vorlesen des Textes musste ich viel improvisieren. Manchmal las ich von einem leeren Blatt ab. Später habe ich getanzt, aber der Tanz war mir zu abstrakt. Im Grunde wollte ich schon immer Geschichten erzählen. Alleine, denn ich war immer Solist. Ich war nie Teil einer Künstlertruppe oder Clique, so war es mein ganzes Leben. Ich habe mich und letztlich mein Publikum dank der Pantomime gefunden.

Konnten Sie denn als Israeli in die ganze Welt reisen?
Zunächst ging es darum, überhaupt aus Israel auszureisen. Damals konnte man nur mit 15 Dollar das Land verlassen. Dank meines Managers Harel, der noch heute mein Manager ist, bekam ich mit Zustimmung eines Komitees ein Stipendium in Höhe von 500 Dollar, weil ich künstlerisch als wertvoll galt.

Wie kam es überhaupt zu Ihrem ersten großen Auftritt?
Für Israelis fanden die Ferien damals immer in Israel statt. Viele Leute machten für zehn Tage Urlaub, in Spa-Hotels oder im Kibbuz, die Kosten übernahm die Hista­drut, die Gewerkschaft. Jeden Abend gab es eine künstlerische Darbietung. Einmal ist jemand ausgefallen, da hat mein Manager mich gefragt: »Sami, hast du nicht Lust aufzutreten?« Damals stand ich als Schauspieler bei der Habimah und dem Cameri-Theater auf der Bühne. Ich war 22 Jahre alt und sagte bloß, ich wüsste nicht, wie ich es machen soll. Er hat geantwortet: »Du kannst ein paar Witze, ein paar Anekdoten erzählen und einen Monolog oder zumindest einen halben Monolog halten. Und dann gibst du noch ein bisschen Pantomime dazu.« Er hat dann schnell gemerkt, dass die Leute jeden Tag in meine Vorstellungen strömten. Das Publikum reagierte begeistert, besonders auf meine Pantomime.

Und wie ging es weiter?
Ein Jahr später kam Marcel Marceau zum ersten Mal nach Israel. Zuvor war ich schon ein Jahr lang als Pantomime aufgetreten. Das war damals eine Sensation, dass jemand als Pantomime ein volles Abendprogramm gab. Ich habe ihn erlebt und beobachtet, wie er eine Atmosphäre schafft, wie er atmet und spielt. Ich habe mir gesagt, das kannst du auch. Dann bin ich mit meinen 22 Jahren und Harel, der aus einer Wiener Familie stammt, nach Europa gegangen und sehr bald in die ganze Welt. Ich trat zunächst in Wien auf, später überall in Europa auf den angesehensten Bühnen. Diesen Sprung habe ich nie bereut, ob in Wien oder Paris, abends gab es Standing Ovations. Mit 24 war ich schon berühmt, aber der Verdienst war gering. Nachts schliefen wir daher in billigen Stundenhotels. Diese Diskrepanz war für mich sehr verwirrend.

Wie war das Echo in Israel, als sie damals ausgerechnet in Österreich und Deutschland auftraten?
Es gab schreckliche, böse Kritiken, ich wurde persönlich heftig attackiert, man hat mich boykottiert. Das alles war ganz furchtbar für mich. Ich war sehr verletzt und habe damit gedroht, meinen israelischen Pass zurückzugeben Viele Israelis dachten, wie kannst du nur? Meine Sicht dagegen war, ich habe als Israeli in den größten Staatstheatern gespielt und Israel Ehre gebracht. Ich bin durch harte Zeiten gegangen. Damals galt jeder, der Israel verlassen hat, als Verräter. Ich habe Israel nicht verraten. Statt reumütig zurückzukehren, bin ich weiter aufgetreten.

Haben Sie die Kritik, ausgerechnet im Land der Täter aufzutreten, nicht auch ein bisschen verstanden?
Doch, denn 1962 gab es noch keine diplomatischen Beziehungen. Aus diesem Grund bat ich um eine offizielle Genehmigung, im Ausland auftreten zu können. Als ich wiederum in Deutschland auftrat, gab es kein Verständnis dafür, man hat mich als Parasiten, als Laus beschimpft. Als ich zu einem Theaterfestival in Israel eingeladen wurde, fragten Journalisten: Warum nehmen wir nicht einen von uns?, obwohl ich dort zuvor erfolgreich aufgetreten war. Daraufhin wollten die Organisatoren meinen Auftritt annullieren, zuletzt haben sie mich doch eingeladen. Ich habe Israel Ehre gebracht – und dann diese maßlose Kritik. Ich war so verärgert und verletzt, dass ich tatsächlich darüber nachgedacht habe, meinen israelischen Pass zurückzugeben, was ich letztlich nicht tat. Wann immer es Krieg gab, ging ich nach Israel zurück, leise, ohne Rummel, ohne Journalisten.

Was hat Sie, jenseits des Erfolgs, zu Österreich und Deutschland hingezogen?
Ich habe immer die Begegnung mit dem Publikum und das Gespräch mit der Jugend gesucht. Nach den Vorstellungen gab es stets einen langen Tisch mit mindestens 20 Studenten, da wurde lange lebhaft diskutiert. Für mich war es wichtig, von Israel zu erzählen, die Leute kannten Israel nicht. Für mich ist klar, mit Hass baut man keine Brücken. Eine Brücke zu bauen, heißt nicht verzeihen, Verbrechen unter den Teppich kehren und zu schweigen. Ganz im Gegenteil! Es bedeutet, offen zu sein, den Austausch zu suchen. Eine junge Generation wuchs heran, ich wollte ihr die Augen öffnen und suchte nach etwas, was wir miteinander teilten. Sie und ich, wir sprachen denselben Satz aus: »Nie wieder« – sie von ihrer Seite und ich als Israeli.

Das Interview mit dem israelischen Pantomimen führte der Psychologe Louis Lewitan.

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