Komische Oper Berlin

»Es gibt die Schtetl noch«

Barrie Kosky Foto: Jan Windszus Photography

Komische Oper Berlin

»Es gibt die Schtetl noch«

Barrie Kosky über »Anatevka«, jüdische Themen und ihren universellen Charakter

von Julia Spinola  27.11.2017 18:22 Uhr

Herr Kosky, am Sonntag hat »Anatevka« an der Komischen Oper Premiere. Wollen Sie wieder mit antisemitischen Klischees schockieren – wie zuletzt in Bayreuth?
Das Thema des Musicals ist das Judentum, nicht so sehr der Antisemitismus. Natürlich geht es, wie immer in der jüdischen Geschichte, auch um drohende Pogrome und um Vertreibung. Aber die zentralen, sehr jüdischen Themen sind Familie, Tradition, Heimat und Exil. Und das sind zugleich universelle Themen der Menschen.

Welche Reaktionen gab es auf Bayreuth?
Ich habe ein paar Hassbriefe bekommen mit antisemitischem Subtext. Aber die Mehrheit des Publikums hat die Inszenierung bejubelt. Dennoch gab es gerade von musikwissenschaftlich gebildeter Seite auch den Einwand, das Thema Antisemitismus habe in den »Meistersingern« nichts zu suchen. Das macht mich immer sprachlos. Denn wenn es um Wagner geht, ist das Wasser immer schmutzig.

Die Inszenierung von Walter Felsenstein an der Komischen Oper war legendär.
Als Felsenstein »Anatevka« 1971 in der DDR inszenierte, war das ein wichtiger Beitrag zur deutschen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Viele Menschen kamen dadurch erstmals in Berührung mit einer jüdischen Geschichte. Und Papa war ein Nazi. Das ist bei uns ein bisschen anders. Ich finde es wichtig, Juden auf die Bühne zu bringen, die weder Häftlinge eines Konzentrationslagers sind, noch Soldaten der israelischen Armee. Denn das sind die beiden Vorstellungen, die der nichtjüdische Europäer typischerweise hat.

Warum sollte es heute für ein nichtjüdisches Publikum interessant sein?
Wie die »West Side Story« war auch »Anatevka« am Broadway in den 60er-Jahren ein sehr radikales Stück. Der Erfolg hat nichts mit dem Judentum zu tun, sondern damit, dass man die Themen beinahe in jede Kultur übertragen kann. Das Stück führt einen Dialog über den Umgang mit der Tradition. Es ist eine groteske Ironie, dass man »Anatevka« heute auch auf Arabisch mitten im Westjordanland spielen könnte, Wort für Wort.

Die Schtetl wurden mit der Schoa ausgelöscht. Wie zeigt sich das auf der Bühne?
Natürlich geht es auch um den historischen Hintergrund, um die vielen Pogrome. Aber was mit den Schtetln passiert ist, kann man auch als eine große Metapher sehen. Es gibt noch die psychologischen Schtetl. Und es gibt moderne Schtetl wie den chassidischen Teil von Brooklyn. Das ist problematisch. Man flieht aus der schrecklichen Enge des Schtetls und gründet dann in der neuen Heimat neue. Ich möchte das Stück ohne Zeigefinger inszenieren, als ein spezifisch jüdisches Stück, das gerade durch diese jüdische Thematik einen universellen Charakter erhält. Der Zuschauer soll nicht denken: »die armen Juden«. Er soll sich in diesen Themen selbst wiederfinden. Und am Ende kommt man mit einem positiven Gefühl heraus, weil das Stück zeigt, dass es weitergeht, was auch immer passiert.

Mit dem Intendanten und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin sprach Julia Spinola.

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025