Wuligers Woche

Einmal Umkehr und zurück

Gut, dass bald Jom Kippur ist. Die bloße Aussicht auf 25 Stunden ohne politischen Diskurs hat etwas Wohltuendes. Foto: Getty Images / istock

Wuligers Woche

Einmal Umkehr und zurück

Oder: Sündenbekenntnis eines Politikjunkies

von Michael Wuliger  12.09.2018 12:41 Uhr

Eigentlich bin ich ein Politikjunkie. Die Debatte der Ideen und Parteien fasziniert mich, seit ich denken kann. Ich habe Politik studiert, mich politisch engagiert und als Politikredakteur gearbeitet. Bevor ich nachts ins Bett gehe, schaue ich Nachrichten. Morgens nach dem Aufstehen geht der erste Griff nicht zur Zahnbürste, sondern zum Smartphone, um zu schauen, was sich politisch getan hat, während ich schlief.

Doch in den letzten Wochen habe ich offenbar eine Überdosis abbekommen. Politik fängt an, mich nur noch zu nerven. Die deutsche Diskussion erscheint mir zunehmend hysterisch. Nicht nur mag ich mich nicht daran beteiligen; ich will nicht einmal mehr verfolgen, wer gerade wen attackiert, sich gegenseitig Lügen vorwirft, zur Revolution aufruft oder Massenbewegungen gründet.

Es kommt mir nur noch wie ein böses Spektakel ohne Sinn und Ziel vor, dessen Zweck alleine in der (Selbst-)Erregung der Akteure liegt. Auf dieser oder jener Seite dabei mitzumachen, ist mir schon als Vorstellung zuwider. Stattdessen wende ich mich mit Grausen ab.

Jom Kippur Deshalb bin ich dankbar, dass bald Jom Kippur ist. Die bloße Aussicht auf 25 Stunden ohne politischen Diskurs hat etwas Wohltuendes. Fernsehen, Radio und Zeitungen sind an diesem Tag tabu, Laptop und Smartphone müssen ausgeschaltet bleiben. Ich betrachte das Verbot als ein Geschenk. Mit jeder Minute, in der ich nicht mitbekomme, für oder gegen was wo demonstriert wird, was welcher Minister gesagt hat und vor allem, was dazu bei Facebook an Kommentaren gepostet wird, geht es mir besser.

Seehofer, Chemnitz und Syrien verblassen. Eine Schutzschicht legt sich um die Seele und lässt den Radau nicht mehr an mich heran. Der Kopf wird frei für wichtigere Dinge. Und wenn am Ende der Schofar ertönt, fühle ich mich psychisch wie frisch gebadet.

Ja, verehrte Damen und Herren Rabbinerinnen und Rabbiner, ich weiß: Ich muss dafür nicht immer ein Jahr warten. Ich könnte das jede Woche haben. Und ich gestehe, dass der Sinn von Schabbat mir immer mehr einzuleuchten beginnt: Einen Tag in der Woche Abstand zum Getöse der Welt zu halten, ist nicht nur ein religiöses Gebot, sondern auch eines der Psychohygiene. An jedem Jom Kippur wird mir das bewusster. Und dass ich jedes Mal daraus keine Konsequenzen ziehe, gibt mir jedes Jahr wieder einen echten Grund zur Reue.

Abstinenz Zumal die Strafe auf dem Fuß folgt. Nach der Jom-Kippur-Abstinenz kommt, wie bei allen Junkies, der Rückfall. Ich schalte Fernseher, Laptop und Handy ein, suche zwanghaft nach Politikberichterstattung, lese Facebook-Kommentare, schreibe selbst welche, schaue, wer was getwittert hat, und habe, schneller als man »Chatima Towa« sagen kann, wieder Kopfschmerzen, Magendrücken und ein generelles Unwohlsein. Schlechtes Gewissen kommt noch erschwerend hinzu.

Mir bleibt nur die Hoffnung, dass vor dem göttlichen Gericht, wie bei weltlichen, Sucht als mildernder Umstand berücksichtigt wird.

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  06.09.2025 Aktualisiert

Essay

Das Gerücht über Israel

Die Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte der Lüge. Was früher dem Juden als Individuum unterstellt wurde, wird nun Israel als Nation vorgeworfen

von Daniel Neumann  06.09.2025 Aktualisiert

Schweden

Jazz-Musiker David Hermlin wirft Festival Cancelling vor

Der Musiker habe auf einem Swing-Festival propalästinensischen Aktivisten Fragen gestellt. Plötzlich sei ihm »Einschüchterung« vorgeworfen worden

 05.09.2025

TV-Tipp

Über 100 Jahre alt - und immer noch prägend - In einer Arte-Doku machen fünf Frauen ein Jahrhundert lebendig

Arte begleitet fünf Frauen, die über 100 Jahre alt sind. Sie alle haben mit außergewöhnlicher Willenskraft auf ihre jeweilige Weise Großes geleistet. Ihre Lebenswege führen von Atatürk bis zur kubanischen Revolution

von Esther Buss  05.09.2025

Fürth

Ruth Weiss ist gestorben

Sie engagierte sich ihr Leben lang gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Nun ist die in Franken geborene Schriftstellerin mit 101 Jahren gestorben

 05.09.2025 Aktualisiert

Kolumne

Hoffnung als portatives Vaterland

Ein Trost trotz Krieg und viel zu vielen Toten: Mitten in Stockholm spielt ein mutiger Musiker die Hatikwa, die israelische Nationalhymne

von Ayala Goldmann  05.09.2025

Berlin

Festival erinnert an Hans Rosenthal

Der jüdische Entertainer wurde vor 100 Jahren geboren. Ein Event stellt den Moderator, der schon in jungen Jahren beim Radio von sich reden machte, in den Mittelpunkt

 05.09.2025

Ferdinand von Schirach

»Sie werden von mir kein Wort gegen Israel hören«

Der Jurist und Schriftsteller war zu Gast bei Markus Lanz - es war eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Sendung

von Michael Thaidigsmann  04.09.2025

Chemnitz

Kunstfestival: Beauftragter hält einige Werke für judenfeindlich

Thomas Feist warf einigen Beteiligten »die Übernahme von ›Fakten‹ vor, die nichts als Übernahme von Hamas-Propaganda sind«

 04.09.2025