Klassik

»Eine talmudische Oper«

Intendant und Regisseur Barrie Kosky (48) Foto: Chris Hartung

Klassik

»Eine talmudische Oper«

Barrie Kosky über seine Inszenierung von Arnold Schönbergs »Moses und Aron«, vertriebene Jahrhundert-Komponisten und persönlichen Erfolg

von Jonathan Scheiner  13.04.2015 20:59 Uhr

Herr Kosky, was hat uns Arnold Schönbergs Oper »Moses und Aron« heute noch zu sagen?
Mich fasziniert die Figur des Moses. Es gibt keinen historischen Beleg dafür, dass dieser Mann überhaupt existiert hat. Außer dem, was in der Bibel steht, wissen wir nichts über ihn. Außerdem mag ich Menschen mit Makeln – und dass Haschem ausgerechnet eine Person ausgesucht hat, die nicht gut kommunizieren kann. Diese Idee finde ich grandios.

Ein Stotterer als Hauptfigur einer Oper – geht das überhaupt?
Ja, deshalb darf Moses bei Schönberg nicht singen. Er macht nur Sprechgesang. Als Widerpart gibt es den Aron, einen strahlenden Heldentenor – eine geniale Idee von Schönberg. Und dann ist da ja auch noch das Volk, die eigentliche Hauptfigur der Oper.

Welche musikalische Rolle spielt das Volk?
Das Volk gleicht einem Zimmer voller Jeschi- waboches. Sie reden und sie rufen und widersprechen sich. Sie ändern ihre Meinung dreimal in einem Satz. Das ist absolut in der jüdischen Tradition des Talmuds.

Warum hatte sich Schönberg ausgerechnet für diesen biblischen Stoff entschieden?
Schönberg hatte das Moses-Syndrom. Er dachte, er sei der Moses der Zwölftonmusik: Ich bringe Musik aus der Wüste der Tonalität in das Gelobte Land der Zwölftonmusik, dorthin, wo Milch und Honig fließen. Er war ein absoluter Fundamentalist.

Inwiefern?
Schönberg war zu dieser Zeit sehr politisch. Er hatte in den 30er-Jahren den Zionismus neu gefunden und mit »Moses und Aron« ein Manifest darüber verfasst, was mit dem jüdischen Volk in Europa passieren soll. Er mischt darin biblische Geschichte, Politik und seine Biografie mit einer sehr widersprüchlichen Vorstellung von Gott und der europäisch-jüdischen Kultur. Das alles zusammen hat ein unglaublich widersprüchliches und komplexes Stück ergeben. Es gibt also nicht nur eine einzige Lesart dieser Oper. Es war Schönbergs Ziel, eine talmudische Oper zu schreiben.

Warum wurde die Oper nie fertig?
Ich glaube nicht daran, dass »Moses und Aron« nicht fertig geschrieben wurde, nur weil der letzte Akt fehlt. Als Schönberg den zweiten Akt beendete mit dem Satz »O Wort, du Wort, das mir fehlt«, wurde ihm klar: Das ist das Ende der Oper! Was sollte nach so einem Satz denn noch kommen? Darin spiegelt sich Moses’ Dilemma mit seiner Vorstellung von einem monotheistischen Gott. Er stirbt mit einem unerfüllten Projekt, wie in der Bibel. Ich bin mir sicher: Schönberg wusste, dass die Oper fertig ist.

Wobei auffällt, dass auch andere jüdische Stücke von Schönberg fragmentarisch erscheinen. Woran liegt das?
Die »Jakobsleiter« war immer als Oratorium gedacht, das ist ein unfertiges Projekt, zugegeben. Dagegen ist sein »Kol Nidre« fertig geworden – ein neunminütiges Meisterwerk. Dasselbe gilt für ein paar weitere kleine Chorstücke. Nur seine großen, langen Werke sind unfertig, aber ich glaube, sie sollen unfertig sein, so wie Michelangelos Mosesstatue etwa.

Wie schwer ist es, ein unfertiges Stück zu inszenieren?
Das macht es nicht leichter. Am schlimmsten sind die Anweisungen bei der Szene, die sich um das Goldene Kalb dreht: Erst kommen Kamele auf die Bühne, dann kommen Pferde, und danach die Ephraimiten, und alle sind nackt. Eigentlich schreibt Schönberg hier ein Drehbuch für einen babylonischen Hollywoodfilm. Man liest die Regieanweisungen und denkt sich: Das ist Fritz Lang in Los Angeles!

Wirkte sich Schönbergs Rekonversion zum Judentum auf das Stück aus?
Schönberg begriff sich immer als deutschsprachiger Komponist. Es waren die Erfahrungen mit seiner Umwelt seit Anfang der 20er-Jahre, die ihn zum Juden machten, noch bevor er im Pariser Exil offiziell zum Judentum rekonvertierte. Doch so sehr er auch mit dem Judentum gerungen hat: »Moses und Aron« wurde nicht im Schatten des Dritten Reichs geschrieben.

Inwiefern ist es dennoch eine jüdische Oper?
Als Jude kann man alle seine persönlichen Probleme mit dem Judentum und dem Glauben auf das Stück projizieren. Dieser Freiraum zur Interpretation, die Unschärfe – das ist schon sehr jüdisch, finde ich.

Für welche Lesart haben Sie sich entschieden?
Mein Job als Regisseur besteht nicht darin, dem Publikum mit dem Zeigefinger zu sagen: Hier ist das, was ich denke! Schönberg selbst hatte auch keine Antworten auf die Fragen, die er in seiner Oper stellt. Das Stück ist am Ende zutiefst pessimistisch. Das israelitische Volk geht am Ende des zweiten Aktes in die Wüste und folgt einer qualmenden Feuersäule, einem Zaubertrick von Aron, der die Juden manipuliert. Auch Moses ist ja am Ende ein Zauberer, als er aus seinem Stab eine Schlange werden lässt.

Wie lässt sich dieser Budenzauber inszenieren?

Ich arbeite sehr stark mit Metaphern der Zauberei. Magie und Religion sind meiner Ansicht nach die gleiche Sache. Das Stück dreht sich darum, wie man ein Volk mithilfe von Magie manipulieren und steuern kann. Das Volk geht also in die Wüste, und Moses bleibt allein zurück und denkt: Ich bin ein absoluter Nebbich, und es funktioniert nicht, dass ich die Aufgabe Gottes erfülle. »O Wort, du Wort, das mir fehlt«, das ist, wie gesagt, der letzte Satz der Oper.

Im Kontrast zur Bibel, wo es heißt: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort ...
Exakt! Moses schafft es nicht, Gott in Worte zu fassen, und deshalb folgen ihm die Israeliten nicht. Zur Strafe sagt Gott zu ihm, dass er das Gelobte Land niemals sehen werde. By the way: Wer bitte denkt sich denn eine so grausame Geschichte aus? Sie sehen: So kann nur ein eingefleischter jüdischer Atheist sprechen.

Wie sind Sie dazu geworden? Hat das mit der Schoa zu tun?
Ich habe immer eine starke Verbindung mit den jüdischen Künstlern gehabt, die Berlin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so stark geprägt und reich gemacht haben. In einer romantischen Anwandlung könnte ich sagen, dass ich ein Nachfahre dieser Mischpoke hier in Berlin bin. Ein Teil von mir ist ein dreckiger Schtetl-Jude, ein Drittel Kosmopolit und ein weiterer Teil jüdischer Clown. Aber am Ende wäre es doch ein wenig unverschämt, mich mit den jüdischen Künstlern zu identifizieren, die ins Exil oder in den Tod geschickt wurden.

Obwohl Sie deren Arbeit und Wirken indirekt fortführen?

Ja. Ich fühle eine Pflicht, die großartigen Arbeiten dieser Künstler zurückzubringen und in Berlin präsent zu machen. Da geht es nicht nur um die Schoa, sondern auch um den künstlerischen Wert dieser Werke. Der Holocaust ist ein furchtbares Kapitel in der Geschichte, aber er ist – trotz allem – nicht das Ende der Geschichte.

Mit dem Intendanten der Komischen Oper Berlin sprach Jonathan Scheiner.

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