Geschichte

Ein Leben, zwei Kriege

Floh nach Deutschland: Borys Sabarko (87) Foto: picture alliance/dpa

»Der russisch-ukrainische Krieg und die Zwangsevakuierung sind die zweite Tragödie meines Lebens«, sagt Borys Sabarko (87), ein Überlebender des Ghettos im ukrainischen Schargorod, der vor einem Jahr wegen des Krieges mit seiner Enkelin aus dem belagerten Kiew nach Deutschland fliehen musste.

Sabarko ist Präsident der Allukrainischen Assoziation der Jüdischen KZ- und Ghetto-Überlebenden und Teil des Projekts »Exodus-2022«, das die Erfahrungen Schoa-Überlebender nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine dokumentieren möchte.

Zeitzeugen Die Initiative, die unter anderem von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) unterstützt wird, nutzt hierfür das Konzept der »Oral History« als Methode. Die Geschichte wird mündlich überliefert, Zeitzeugen, die 1941 unter den Nazis litten und 2022 vor den Russen flohen, werden bei Videotreffen hinsichtlich ihrer doppelten und traumatisierenden Kriegserfahrungen befragt.

»Am Tag des russischen Einmarschs ärgerte ich mich darüber, dass ich als Historiker dieses Szenario nicht vorhergesehen habe«, klagt Sabarko, Autor von mehr als 200 Büchern und Artikeln, Träger der ukrainischen Verdienstmedaille und des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Seine Flucht aus der ukrainischen Hauptstadt begann in einem überfüllten Evakuierungszug, der über Uschgorod und Budapest schließlich Stuttgart erreichte, wo Sabarko heute lebt.

explosion Für den Schauspieler und Regisseur Yevgeny Chepurnyak begann der Krieg am 24. Februar 2022 um fünf Uhr morgens mit einer gewaltigen Explosion, einer schwarzen Wolke vor den Fenstern und zerbrochenem Glas im Zimmer seiner Eltern Samuel Sinowjewitsch und Mila Emmanuilowna. Auch sie hatten all dies bereits 80 Jahre zuvor durchgemacht. 1941 wurde der damals 13-jährige Samuel von einem Marschkonvoi zurückgelassen, den die Nazis in Richtung Exekution führten.

»Wer hat angegriffen? Die Deutschen?«, fragte Irina Poliushkina als 2022 der Krieg in der Ukraine begann.

Samuel lief zehn Monate lang bis zur Front. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, hatte die Familie ihre Wohnung schon über Jahre kaum mehr verlassen. Ihre Evakuierung nach Israel verlief entsprechend dramatisch. Und dennoch berichtet Yevgeny Chepurnyak, dass sein Vater Samuel sein ganzes Leben so wenig wie möglich kaufte, weil »er immer das Gefühl hatte, dass man bereit sein muss, alles zurückzulassen und wegzulaufen«. Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine erwies sich dieses Gefühl als begründet.

Sofya Kalmanovna aus Mariupol hingegen kam nie mehr zurück. Sie war die Mutter der Mathematiklehrerin Irina Poliushkina und erst anderthalb Jahre alt, als der Große Vaterländische Krieg begann. Trotzdem erinnert sie sich noch an die Evakuierung und daran, wie ihr Zug bombardiert wurde und die Familie zwei Tage lang im Schnee saß.

Die ehemalige Leiterin eines Kindergartens war seit einigen Jahren gelähmt und brauchte ständige Pflege. Als sie hörte, dass ein Krieg ausgebrochen war, fragte die alte Dame: »Wer hat angegriffen? Die Deutschen?« – »Nein. Russland«, antwortete ihre Tochter Irina. »Sind die verrückt?«, entgegnete die Mutter.

Chanukkia Nachdem alle Zuleitungen unterbrochen waren, herrschten in der Wohnung der Poliushkins fünf Grad Celsius. Sofya war mit drei Decken zugedeckt und von Wärmflaschen umgeben. Nach einem der Angriffe wäre sie fast bei lebendigem Leib verbrannt, doch Irinas Mann rettete sie. Um 19 Uhr musste die alte Frau Insulin gespritzt bekommen und gefüttert werden. Doch es gab keinen Strom, die Wohnung war stockfinster. Also nahm Irina eine Chanukkia und injizierte schnell das Insulin. Sie hatte Angst, dass ein Scharfschütze das Licht sehen und schießen könnte.

Irinas Sohn, der in Israel lebt, kontaktierte damals den Rabbiner von Mariupol – in der Stadt gab es keinen Handyempfang. Der Rabbiner schickte umgehend ein Auto, um die Familie abzuholen. Leider erkrankte Sofya Kalmanovna später auf der Krim, wohin die Flüchtlinge gebracht wurden, an einer Infektion und starb einen Monat später.

Jedes Videotreffen des »Exodus-2022«-Projekts (geplant sind insgesamt zehn) widmet sich dem Schicksal eines jüdischen Menschen, der zum Lebensende die traumatischen Erfahrungen eines Krieges noch ein zweites Mal erleben muss. Die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die jüdische Gemeinschaft sind bereits jetzt sehr schwerwiegend.

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