psychologie

Die Schönheit des Kopfes

Wo immer heute Arbeitsgruppen zusammenkommen und ihren Kommunikationsstil verbessern wollen – sei es in Unternehmen, an Universitäten, in der Teamarbeit oder in der Gruppentherapie –, kommt, oft unausgesprochen, ein Verfahren zur Anwendung, das Fachleuten als TZI bekannt ist: Themenzentrierte Interaktion. Dahinter verbirgt sich eine Methode, deren Grundgedanke ist, dass Menschen auch in Gruppen als Individuen auftreten, weshalb es wichtig sei, auf die Gefühle der Einzelnen Rücksicht zu nehmen. Die Begründerin dieser Methode, Ruth C. Cohn, ist indes trotz ihres enormen Einflusses nur wenigen bekannt.

Geboren wird sie 1912 als Ruth Charlotte Hirschfeld in Berlin-Charlottenburg. Der Vater ist Bankier, die Mutter Pianistin. Ihre Kindheit ist wohlbehütet, in der großbürgerlichen Wohnung in der Mommsenstraße gibt es Dienstmädchen und eine Kinderfrau, den Fahrstuhl im Treppenhaus dürfen Ruth und ihr Bruder nicht alleine benutzen. Ihre Eltern, die sie als liebevoll, aber distanziert erlebt, sind nicht religiös, gehen aber an Rosch Haschana in die Synagoge.

erste Schritte Eigentlich will Ruth Lyrikerin und Journalistin werden – in späteren Jahren veröffentlicht sie tatsächlich einen Band mit Gedichten –, entscheidet sich jedoch Anfang der 30er-Jahre für ein Studium der Psychologie und Nationalökonomie in Heidelberg und Berlin. Ruth gehört zu den wenigen, die Hitlers Mein Kampf gelesen haben, und sie nimmt dieses Buch sehr ernst. Als sie gleich nach der Machtübernahme der Nazis erlebt, wie jüdische Studenten von ihren Kommilitonen verprügelt werden, und als sich dann auch noch ihr Freund von ihr trennt, weil sie Jüdin ist, zögert sie nicht und verlässt Deutschland noch 1933. In Zürich setzt sie ihre Studien fort und beginnt eine Ausbildung zur Psychonanalytikerin. 1941 zieht sie, inzwischen verheiratet, mit Mann und Kind nach New York. Dort widmet sie sich zunächst der pädagogischen Arbeit mit Kindern, eröffnet eine psychologische Praxis und wendet sich mehr und mehr von der klassischen Psychoanalyse ab und der Gruppentherapie zu.

Als sie 1955 einen Workshop mit angehenden Psychoanalytikern leitet, entwi-ckelt sie eher en passant die Methode, die sie später zur Themenzentrierten Interaktion (TZI) ausbauen wird. Zunächst merkt sie nur, dass ihre Workshops bei den Studenten besonders beliebt sind, was ihr Vorwürfe von Kollegen einbringt: Sie sei nicht distanziert genug. »Ich wusste, ich mache irgendwas, aber ich wusste nicht was«, sagt sie 1992 in einem Interview. »Ich beachte mich, ich beachte die anderen, ich schweige sehr viel, aber nicht zu viel, ich bringe sie (die Gruppenteilnehmer) immer wieder zum Thema zurück – Ich, Wir und Es« – so beschreibt Ruth Cohn ihr Vorgehen. Damit sind die drei Faktoren der TZI benannt: Das Ich steht für die Autonomie des Einzelnen, die sich jedoch stets nur in Interaktion mit dem Wir, der Gruppe, den Mitmenschen, entfalten kann. Gemeinsames Ziel ist die Arbeit am Es, womit nicht das Freud’sche Unbewusste gemeint ist, sondern das Thema der Gruppe, die gemeinsame Aufgabe, zu deren Lösung man zusammengekommen ist. Als vierten Faktor fügt Cohn später diesem Modell noch den »Globe« hinzu, der für das (soziale, kulturelle) Umfeld der Gruppe steht – im Prinzip zählt der gesamte Zustand der Welt zum »Globe«.

Körpersprache Ruth C. Cohn hat immer betont, wie wichtig die historische Erfahrung des Nationalsozialismus für die Entwicklung der TZI war. Der Einzelne soll in die Lage versetzt werden, seine Grenzen zu erweitern und freie Entscheidungen zu treffen – in Interaktion mit seinen Mitmenschen. Zwar steht das Thema der Gruppe stets im Mittelpunkt, es kann jedoch laut Cohn nie allein verstandesmäßig bearbeitet werden. Daher sind die Gefühle und Wünsche, auch die Körpersprache der Teilnehmer genauso wichtig und wollen beachtet werden wie die Gruppendynamik, die sich zwischen den beteiligten Personen entwickelt. Bekannt geworden ist das Postulat »Störungen haben Vorrang.« Das bedeutet unter anderem, dass Nebengedanken ausge- sprochen werden sollten, denn auch sie können für die Diskussion wichtig sein.

Obwohl Ruth Cohn an gewaltfreie Konfliktlösung glaubte, war sie nie naive Pazifistin. »In einer kleinen Studentengruppe fantasierten wir 1934/35, ob es nicht richtig wäre, während sich die führenden Nazis in Nürnberg zum Reichsparteitag trafen, eine Bombe reinzuwerfen«, erinnert sie sich 2002. Sie ist überzeugt: »Mordfantasien haben wir alle. Wenn wir sie nicht haben, haben wir sie verdrängt.«

Konfliktregulation Seit Ende der 60er-Jahre hält sich Ruth Cohn vermehrt wieder in Europa auf, hält Vorträge und gibt Seminare. Sie mietet sich eine kleine Wohnung mit Balkon und Seeblick in der Schweiz. Auch Deutschland besucht sie, kehrt in den 80er-Jahren auch wieder in ihre Geburtsstadt Berlin zurück. »Die ersten Male war es schwierig, die Bilder der Vergangenheit belasteten mich sehr«, erinnert sie sich später. Doch die Freundschaften, die sie dort schließt, vermitteln ihr schließlich eine neue Sicherheit. Studenten der Freien Universität, die der autonomen Szene angehören, besuchen ihre Veranstaltungen, weil sie etwas über Konfliktregulation in Gruppen lernen wollen. Sie haben es offenbar besonders nötig.

So wichtig es Cohn war, die Rolle des Gefühls gegenüber der des Verstandes zu stärken, so kritisch sah sie die Übertreibung dieses Prinzips in der Psycho- und Therapieszene. Anfang der 90er-Jahre erzählte sie: »Wenn ich heute in Gruppen bin, heißt es immer: Du redest ja nicht vom Bauch, du redest ja nur vom Kopf. Worauf ich dann immer sage: Der Kopf ist auch ein schöner Körperteil.« Ruth C. Cohn starb am 30. Januar mit 97 Jahren in Düsseldorf, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbracht hatte.

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