Terror

Die koranischen Verse

Unter dem Motto »Lies!« verteilt ein muslimischer Aktivist in Hannover Freiexemplare des Koran. Foto: dpa

Was haben die in jüngster Zeit begangenen Terroranschläge mit dem Islam zu tun – etwa das LKW-Massaker von Nizza, der Sprengstoffanschlag von Ansbach oder die Ermordung eines 86 Jahre alten katholischen Priesters im nordfranzösischen Saint-Étienne-du-Rouvray?

Jeder dieser Anschläge wurde von muslimischen Tätern begangen, die sich bei ihren Morden auf den Islam beriefen. Sie mordeten im Namen Allahs, begründeten das Unbegründbare mit dem Koran. Die Ursachenforschung muss neben den politisch-sozialen Umständen und den persönlichen Täter-Biografien deshalb auch die betreffende Ideologie berücksichtigen. Nennen wir sie der Einfachheit halber »IS-Ideologie«, obwohl der Islamische Staat beileibe nicht die einzige Terrororganisation ist, die sich auf den Islam beruft.

legitimation Wie islamisch aber ist diese IS-Ideologie in Wahrheit? Die einen meinen, dass der Islam all diese Verbrechen rechtfertige, ja sogar vorschreibe. Andere wiederum beteuern, der IS würde die Religion missbrauchen oder zumindest grundlegend falsch interpretieren. Welche Seite hat Recht?

Viele Verbrechen des IS auf eigenem Territorium haben eine starke Legitimationsbasis in den islamischen Quellen, also im Koran, in den Prophetenüberlieferungen und in der Lehrtradition. Zum Beispiel körperliche Bestrafungen, Hinrichtungen von Apostaten und Homosexuellen sowie der sexuelle Missbrauch, Kauf und Verkauf von als Kriegsbeute versklavten Frauen. Für viele islamistische Anschläge aber, die außerhalb des eigenen Gebiets verübt werden, bietet selbst das klassische islamische Kriegsrecht keine Rechtfertigung.

Für die Tötung von Mohammed-Karikaturisten etwa lassen sich im Islam zwar leider religiöse Argumente anführen. Auch für die Inkaufnahme von zivilen Opfern bei einem Anschlag auf feindliche Soldaten. Der willkürliche Anschlag auf einen zivilen Personenzug indes lässt sich mitnichten anhand islamischer Quellen rechtfertigen.

Dennoch haben auch solche Anschläge etwas mit dem Islam zu tun. Nicht, weil der Islam eine direkte theologisch-normative Legitimation dafür anbietet, sondern indem er die Entmenschlichung von Nichtmuslimen faktisch begünstigt. Die Aufteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige, das maßlos überhöhte Selbstbild, die Verachtung von Nichtmuslimen, die Lobpreisung des Tötens und Sterbens im Namen Allahs, die Versprechen für das Jenseits – all dies finden wir im Koran und in den Prophetenüberlieferungen.

aspekt Greifen wir nur einen speziellen Aspekt heraus: die Judenfeindlichkeit. Nirgends ist sie heute stärker ausgeprägt als in der muslimischen Welt. Der Koran selbst enthält zahlreiche judenfeindliche Stellen. Politisch-soziale Faktoren können je nachdem dazu beitragen, dass diese Passagen im Bewusstsein der Muslime eher in den Hintergrund rücken; umgekehrt können sie aber auch rabiate Auslegungen begünstigen. Für beides enthält die islamische Geschichte Beispiele.

Zum Verständnis: Der Koran ist eine Sammlung von vielen einzelnen »Reden«. Diese hat Mohammed im 7. Jahrhundert innerhalb eines etwa 20-jährigen Lebensabschnitts als göttliche Offenbarungen vorgetragen. Viele Passagen des Korans beziehen sich auf konkrete Umstände und Probleme im Leben Mohammeds und seiner Mitmenschen.

Die Juden, im Koran oft als »die Kinder Israels« bezeichnet, und ihre überlieferte Geschichte fungieren im mekkanischen Teil des Korans als Kronzeugen für die Wahrheit der Botschaft Mohammeds gegenüber den mekkanischen Polytheisten.

darstellung Erst einige Jahre nach der Übersiedlung von Mekka nach Medina, nachdem sich abzeichnete, dass die in Medina lebenden Juden sich Mohammed nicht anschließen werden, ändert sich der koranische Ton. Ab da wird in den koranischen Versen immer schärfer gegen die Juden polemisiert.

Der Koran unterstellt den Juden Niedertracht, Treulosigkeit, Hochmut und andere böse Charaktereigenschaften. Neben den einschlägigen Prophetenüberlieferungen sind es diese Koranverse, die den Muslimen seit 14 Jahrhunderten bei Bedarf eine religiöse Legitimation für judenfeindliche Einstellungen und Handlungen bieten.

Moderne Apologeten widersprechen einer solchen Darstellung mit dem Argument, dass dies eine verzerrende, einseitige Auslegung sei. Man müsse die Koranpassagen in den textlichen und historischen Kontext setzen. Besonders müssten die konkreten Situationen berücksichtigt werden, auf die diese Koranverse reagieren.

In den Versen, die scheinbar pauschale Vorwürfe enthalten, gehe es in Wahrheit nur um die konkreten Juden in Medina zur Zeit des Propheten, die in Rivalität zu den Muslimen standen. Solchen situationsbedingten Koranversen allein aufgrund des Wortlauts generalisierende Bedeutungen zu entnehmen, zeuge von Unwissenheit oder böser Absicht. Judenhass habe nichts mit dem Islam zu tun.

kontext Verdeutlichen wir uns das Argument an einem fiktiven Beispiel: Angenommen bei einem Gipfeltreffen beraten die EU-Staaten mit der Türkei über das Flüchtlingsabkommen. Sagen wir, die türkische Regierung würde (mit oder ohne berechtigte Gründe) nachträglich neue Bedingungen stellen.

Das Treffen scheitert, und der deutsche Außenminister tritt erbost vor die Kameras, um Folgendes zu sagen: »Die Türken halten sich nicht an ihr Wort.« Es wäre unfair, würde man diesen Satz aus dem Kontext reißen und dem Außenminister Türkenfeindlichkeit unterstellen. Jeder Verständige würde anerkennen: Mit diesem Satz ist nicht gemeint, dass »die« Türken generell wortbrüchig und unzuverlässig sind, sondern dass die gegenwärtige türkische Regierung sich in einem Punkt nicht an eine Absprache gehalten hat.

Was wäre aber, wenn der deutsche Außenminister in so einer Situation etwa sagen würde: »Die Türken halten sich nicht an ihr Wort. Schon ihre osmanischen und seldschukischen Ahnen zeichneten sich durch Wortbrüchigkeit aus. Ihre Vorfahren haben abscheuliche Taten begangen. Deshalb hat Gott sie verflucht. Es gibt einige wenige unter ihnen, die treu und ehrlich sind. Die meisten aber sind verdorben.«?

Wer würde in so einer Situation ernsthaft versuchen, dieses Statement mit Hinweis auf den »Kontext« doch noch zu retten? Um eine klare Türkenfeindlichkeit zu erkennen, bedürfte es hier gar keiner extensiven Auslegung. Das Statement selbst fällt nämlich weit über den eigenen Kontext und über die Grenzen der konkreten Situation hinausgehende negative Pauschalurteile über ein ganzes Volk.

Die Tatsache, dass auch dieses Statement einen konkreten Anlass und einen eigenen Kontext hätte, würde daran nichts ändern. Genau dieser Art sind auch die koranischen Anschuldigungen gegen Juden, wie die folgenden Beispiele illustrieren, die fast beliebig erweitert werden könnten.

vorwürfe Die Juden haben laut Koran einst ihren Bund mit Allah gebrochen, wurden daher verflucht, weshalb man mit ihnen, mit Ausnahme von einigen wenigen, stets Betrug und Verrat erleben würde (5:12–13); die Juden hätten Gott verleumdet, seien deswegen verflucht und trachteten nur nach Unheil auf Erden (5:64); viele von ihnen seien Frevler (5:81); die Juden hätten von Moses unmögliche Dinge verlangt, damit sie ihm Glauben schenken, und seien deshalb bestraft worden (4:153); Muslime sollten keine Juden und Christen zu Freunden nehmen (5:51), vielmehr gegen sie kämpfen, bis sie erniedrigt Tribut an die Muslime entrichten (9:29).

Der Koran selbst geht also bei seinen Vorwürfen gegen die Juden weit über die Grenzen der konkreten Umstände hinaus, die den Anlass dieser Vorwürfe dargestellt haben mögen. Laut Koran zeichnet sich die Mehrheit der Juden seit jeher durch verwerfliche Charaktereigenschaften aus, wobei es nur wenige Ausnahmen gibt.

auslegung Judenfeindlichkeit ist kein Randproblem von Radikalen. Sie lässt sich anhand der islamischen Literatur im Mainstream-Islam der vergangenen 14 Jahrhunderte in unterschiedlichen Dosierungen durchgängig nachweisen. Selbstverständlich sind nicht alle Muslime antisemitisch.

Zum einen gibt es sehr viele säkulare Kulturmuslime, für sie spielt die Religion keine nennenswerte Rolle und sie wissen meist auch nicht, was im Koran steht. Zum anderen gab und gibt es muslimische Strömungen, die eine eher »humanistische« Auslegung und Praxis befürworten – und jeder Text bietet Spielräume für Interpretationen.

Bei einer glaubwürdigen Auslegung muss es aber auch Grenzen des noch Vertretbaren geben. Wir können nicht jeder problematischen Äußerung einer ehrwürdigen Quelle mit Hermeneutik und Kontextualisierung beikommen. Nicht jede verwerfliche Bedeutung lässt sich mit Ignorieren, Umdeuten oder Relativieren aus der Welt schaffen.

distanzierung Von manchen Koranstellen muss sich die muslimische Gemeinschaft unmissverständlich distanzieren, nicht nur weil sie heute nicht mehr vermittelbar sind, sondern weil sie schon zum Zeitpunkt ihrer Äußerung moralisch falsch waren. Das hat auch die Evangelische Kirche in Deutschland in Bezug auf die antisemitischen Äußerungen Martin Luthers eingesehen und sich 2015 von diesen Stellen in Luthers Werk ohne Wenn und Aber distanziert.

Eine offene Distanzierung von manchen koranischen Stellen ist für Muslime ungleich schwieriger. Zudem kennt der Islam keine der Kirche vergleichbare Institution. Dennoch könnten und sollten die Wortführer des liberalen Islam in Deutschland als Intellektuelle mutig vorangehen – sei es auch nur um der eigenen Glaubwürdigkeit willen.

Der Autor wurde 1981 in Nürnberg als Kind türkischer Einwanderer geboren. Er schreibt unter anderem für »Die Zeit«, »Cicero« und die Philosophie-Zeitschrift »Aufklärung und Kritik«.

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024