Geschichte

Die Individualität zurückgegeben

Yehuda Bauer Foto: Uwe Steinert

Das Schtetl gilt als Inbegriff des osteuropäischen Judentums. Dennoch ist 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs relativ wenig über das Leben der Juden in den Schtetlech während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 bekannt. Trotz dieser Leerstelle hat sich die Vorstellung durchgesetzt, die Juden in diesen Orten hätten sich der deutschen Besatzung und ihrer Ermordung kampflos ergeben und in Person der Judenräte sogar mehrheitlich mit den Deutschen kollaboriert.

Diese Erzählung möchte der israelische Historiker Yehuda Bauer korrigieren. In seinem Buch Der Tod des Schtetls beschäftigt er sich exemplarisch mit zwölf Schtetlech in den Kresy genannten Gebieten des früheren Ostpolens zwischen 1939 und 1944. Er möchte von den Menschen und ihrem Alltag berichten: »Dass sie gestorben sind, weiß ich. Ich möchte wissen, wie sie lebten«, beschreibt Bauer seine Intention.

So schildert er eindrücklich die oftmals verzweifelten und fast immer hoffnungslosen Überlebensstrategien der jüdischen Bevölkerung in den Schtetlech. Es war nämlich keineswegs so, dass die Juden ihr Schicksal einfach akzeptiert hätten. Bauer führt zahlreiche Judenräte an, die alles taten, um ihre jüdischen Gemeindemitglieder vor dem Tod zu bewahren. Fast alle bezahlten dies mit ihrem eigenen Leben.

Widerstand Bauer findet zudem in den meisten Schtetlech eine ganz eigene und seiner Meinung nach sehr jüdische Form des Widerstands, die sogenannte amida (hebräisch für »aufstehen gegen«). Dazu zählt er einen humanitären, unbewaffneten Widerstand, der vor allem auf den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft abzielte. Dieser wurde, wie Bauer zeigt, in vielen Ghettos durch bewaffnete Aufstände und Ausbruchsversuche ergänzt. Bauer gelingt es dadurch, das gängige Bild von den Juden der Schtetlech zurechtzurücken: Sie ließen sich keineswegs wie Schafe zur Schlachtbank führen.

Gleichwohl unterschieden sich die Reaktionen von Schtetl zu Schtetl, ohne dass dies durch soziale, ökonomische oder soziale Faktoren ausreichend erklärt werden könnte. Deshalb verweist Bauer für die Erklärung der Verhaltensunterschiede auf Charakter, Zufall und Glück. Ein interessanter, geschichtswissenschaftlich jedoch nicht unumstrittener Ansatz, wie er selbst anmerkt.

Letzlich hatten aber alle diese Formen des Widerstands ihre Grenzen. In vielen Schtetlech machten die elenden Lebensbedingungen jede Form der amida unmöglich. Hinzu kam, dass den Juden nicht nur die Deutschen feindlich gegenüberstanden, sondern auch ihre ukrainischen, polnischen und weißrussischen Nachbarn. Nur wenige überlebten bei Partisanen oder Bauern, denn auch bei ihnen waren die Juden nie vor Verrat und Mord sicher.

Kultur Detailliert geht Bauer der Frage nach, wie die über Jahrhunderte gewachsenen jüdischen Gemeinschaften innerhalb kürzester Zeit zerfallen konnten. Für ihn spielt die sowjetische Besatzung von 1939 bis 1941 eine nicht unerhebliche Rolle: »Die Sowjets haben das Schtetl als historisch-gesellschaftlich-kulturelles Gebilde zerstört, bevor die Deutschen es physisch vernichteten.«

Natürlich betont er die grundlegenden Unterschiede der beiden Besatzungsregime. Nicht zuletzt das weitgehende Fehlen von Antisemitismus und die sich neu eröffnenden beruflichen Möglichkeiten unter der Sowjetbesatzung führten dazu, so Yehuda Bauer, dass junge Juden von alleine dem Schtetl und dem Judentum den Rücken zukehrten. Dennoch griffen die Sowjets auch restriktiv in das jüdische Alltagsleben ein und gingen brutal gegen Zionisten, Bundisten und religiöse Juden vor. Zudem wurden von den Sowjets innerhalb weniger Monate knapp 300.000 Juden in abgelegene russische Gebiete und Arbeitslager deportiert.

Dass es am Ende die sowjetische Armee war, die im Jahr 1944 diese Gebiete befreite, ist somit bittere Ironie. Doch Befreiung hieß in diesem Fall, dass nur noch der Tod der Schtetlech festgestellt werden konnte. Die deutsche Vernichtungsmaschine war total gewesen: In anderthalb Jahren hatten die Deutschen nahezu alle Juden ermordet, weniger als 25.000 von ihnen oder zwei Prozent der jüdischen Vorkriegsbevölkerung hatten die deutsche Besatzung überlebt.

Yehuda Bauer leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung dieses letzten, erschütternden Kapitels in der langen Geschichte des Schtetls und zeichnet ein einmaliges Porträt seiner Bewohner. Dadurch gelingt es ihm, ihnen ihre Individualität zurückzugeben – etwas, das die deutsche Barbarei ihnen rauben wollte.

Yehuda Bauer: Der Tod des Schtelts, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 364. S., 24,95 €

Nachruf

Filmproduzent mit Werten

Respektvoll, geduldig, präzise: eine Würdigung des sechsfachen Oscar-Preisträgers Arthur Cohn

von Pierre Rothschild  15.12.2025

Meinung

Xavier Naidoos antisemitische Aussagen? Haken dran!

Der Mannheimer Sänger füllt wieder Konzertsäle. Seine Verschwörungserzählungen über Juden und holocaustrelativierenden Thesen scheinen kaum noch jemanden zu stören

von Ralf Fischer  15.12.2025

Los Angeles

Bestürzung über Tod von Rob Reiner und Ehefrau Michele

Der jüdische Regisseur und seine Frau wurden tot in ihrem Haus aufgefunden. Die Polizei behandelt den Fall als mögliches Tötungsdelikt

 15.12.2025

Justiz

Gericht: Melanie Müller zeigte mehrmals den Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was im Berufungsverfahren zur Debatte steht

von André Jahnke  14.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  14.12.2025

Nachruf

Trauer um Hollywood-Legende Arthur Cohn

Arthur Cohn war immer auf der Suche nach künstlerischer Perfektion. Der Schweizer Filmproduzent gehörte zu den erfolgreichsten der Welt, wie seine Oscar-Ausbeute zeigt

von Christiane Oelrich  12.12.2025

Computerspiel

Lenny Kravitz wird James-Bond-Bösewicht

Als fieser Schurke will der Musiker im kommenden Jahr dem Agenten 007 das Leben schwer machen – allerdings nicht auf der Kinoleinwand

 12.12.2025

Berlin

Jüdisches Museum bekommt zusätzliche Förderung

Das Jüdische Museum in Berlin gehört zu den Publikumsmagneten. Im kommenden Jahr feiert es sein 25. Jubiläum und bekommt dafür zusätzliche Mittel vom Bund

 12.12.2025

Aufgegabelt

Latkes aus Dillgürkchen

Rezepte und Leckeres

 12.12.2025