7. Oktober

Die gestohlenen Kinder

Nicole Dreyfus Foto: Claudia Reinert

7. Oktober

Die gestohlenen Kinder

Unsere Redakteurin beschreibt, was die Ermordung der sechs Geiseln am vergangenen Wochenende bei ihr - und wahrscheinlich allen Eltern - auslöst

von Nicole Dreyfus  04.09.2024 17:34 Uhr

Jedes Mal der Anblick dieser lachenden Gesichter. Jedes Mal das Gefühl im Körper, dass sich der Magen jetzt gleich umdreht.

Seit am Samstagabend bekannt wurde, dass unterhalb Rafahs sechs Geiseln ermordet wurden, und zwar nur kurz vor ihrer Entdeckung, wird mir andauernd schlecht. Schon der Gedanke, dass das Feuer von sechs wunderschönen Menschen - lebensfroh, lustig, mitten in ihrem jungen Leben stehend - für immer erloschen ist, verursacht diese Übelkeit.

Das Wissen, dass immer noch eine ungeklärte Anzahl unschuldiger Menschen in Tunneln festgehalten wird, aus dem einzigen Grund, weil sie Juden sind, verlangt mir jeden Tag enorm viel Kraft ab. Aber die Tatsache, dass für sechs Mütter und Väter das Schlimmste, was Eltern überhaupt widerfahren kann, eingetroffen ist, nämlich das eigene Kind zu verlieren, korreliert nicht mehr mit dem eigenen Fassungsvermögen.

Es gibt keine Relativierung, keine Legitimation dafür, dass einem das Kind weggenommen wird. Und zwar von Menschen, denen das Morden wie Butter von der Hand geht. Der Verlust des eigenen Kindes – und dazu noch auf die brutalste Art und Weise – hinterlässt eine Wunde, die unheilbar ist.

Wenn man als Mutter ein Kind in sich trägt und 40 Wochen darauf wartet, dass es gesund und ohne Komplikationen zur Welt kommt, so verspürt man mit jedem Tag, mit jedem Monat, der vor und nach der Geburt verstreicht, eine unglaubliche Dankbarkeit, dass es dem Kind gut geht. Es ist der immer wieder zurückkehrende Moment des unfassbaren Glücks, dass alles so ist, wie es sein sollte. Und das zieht sich immer weiter. Ein ganzes Leben lang.

Gewiss, man katapultiert sich durch den Alltag, bestreitet Hürden und Herausforderungen, erträgt Niederlagen. Doch der Tod bleibt in den Tiefen der eigenen Vorstellungskraft versteckt. Oder besser gesagt, er lauert. Denn er fragt nicht, wann er in Erscheinung treten soll. Weshalb sollte er auch? Tut er es dennoch, erfahren wir die bittere Lebenslektion, damit umgehen zu müssen. Die einen können es besser als die anderen.

Die Eltern so vieler Töchter und Söhne, die seit dem 7. Oktober ums Leben gekommen sind, deren Kinder geradezu aus dem Leben gestohlen wurden, kämpfen weiter und das in vielerlei Hinsicht. Sie kämpfen mit der letzten Kraft um die Freilassung der Geiseln, sie kämpfen um Verhandlungen und um sich Gehör zu verschaffen. Doch Politiker, die nicht wissen, was es bedeutet, ein Kind unfreiwillig in die Hände mörderischer Diebe, wie die Hamas-Terroristen es sind, zu geben, hören nicht hin und können nicht nachfühlen, wie sich dieser Diebstahl anfühlt.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Rachel Goldberg-Polin, die Mutter des getöteten Hersh, stand jeden Morgen auf, ohne zu wissen, ob ihr Sohn lebte oder tot war, und kämpfte wie eine Löwin. Sie betete für ihren Sohn. Sie traf sich mit führenden Persönlichkeiten der Welt. Sie klebte sich jeden Morgen ein Stück Klebeband auf die Brust und zählte die Tage, die seit seinem gewaltsamen Verschwinden vergingen. Und sie forderte alle auf, sich darum zu kümmern, dem Hass nicht nachzugeben und für die Liebe zu kämpfen.

330 Tage lang erlebten wir, wie Rachel Goldberg-Polin der Welt die Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Sohn zeigte. Wir haben gesehen, wie sie beim Democratic National Convention zusammenbrach, dann aber wieder aufstand und sprach. Noch vergangene Woche sahen wir, wie sie an der Grenze zum Gazastreifen mit gebrochener Stimme den Namen ihres Sohnes schrie. »Hersh!«, schrie sie und der Schmerz schoss aus ihrer Brust, »Hier ist Mama«. Wir wissen jetzt, dass diese Stunden wahrscheinlich zu seinen letzten gehörten.

Heute Abend werde ich meinen Kindern im Bett die Haare aus dem Gesicht streichen, sie mit Küssen zutapezieren und wissen, dass es meine Aufgabe in dieser Welt ist, für ihre Sicherheit zu sorgen. Alex, Almog, Carmel, Eden, Hersh und Ori und alle anderen, deren Namen hier nun nicht stehen – sie alle wird niemand mehr küssen. Ja, sie sind nun frei. Aber es ist eine Freiheit, die mit dem höchsten Preis zu bezahlen war. Mit dem Leben.

Glosse

Der Rest der Welt

Von Kaffee-Helden, Underdogs und Magenproblemen

von Margalit Edelstein  08.12.2025

Eurovision Song Contest

»Ihr wollt nicht mehr, dass wir mit Euch singen?«

Dana International, die Siegerin von 1998, über den angekündigten Boykott mehrerer Länder wegen der Teilnahme Israels

 08.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  08.12.2025

Vortrag

Über die antizionistische Dominanz in der Nahostforschung

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat im Rahmen der Herbstakademie des Tikvah-Instituts über die Situation der Universitäten nach dem 7. Oktober 2023 referiert. Eine Dokumentation seines Vortrags

 07.12.2025

Zwischenruf

Die außerirdische Logik der Eurovision

Was würden wohl Aliens über die absurden Vorgänge rund um die Teilnahme des jüdischen Staates an dem Musikwettbewerb denken?

von Imanuel Marcus  07.12.2025

Los Angeles

Schaffer »visionärer Architektur«: Trauer um Frank Gehry

Der jüdische Architekt war einer der berühmtesten weltweit und schuf ikonische Gebäude unter anderem in Los Angeles, Düsseldorf und Weil am Rhein. Nach dem Tod von Frank Gehry nehmen Bewunderer Abschied

 07.12.2025

Aufgegabelt

Plätzchen mit Halva

Rezepte und Leckeres

 05.12.2025

Kulturkolumne

Bestseller sind Zeitverschwendung

Meine Lektüre-Empfehlung: Lesen Sie lieber Thomas Mann als Florian Illies!

von Ayala Goldmann  05.12.2025

TV-Tipp

»Eigentlich besitzen sie eine Katzenfarm« - Arte-Doku blickt zurück auf das Filmschaffen von Joel und Ethan Coen

Die Coen-Brüder haben das US-Kino geprägt und mit vielen Stars zusammengearbeitet. Eine Dokumentation versucht nun, das Geheimnis ihres Erfolges zu entschlüsseln - und stößt vor allem auf interessante Frauen

von Manfred Riepe  05.12.2025