Interview

»Die analogen Schätze gehoben«

Leitet die Kinemathek Jerusalem und das Jerusalem Film Festival: Noa Regev (39) Foto: Meirav ben Lulu

Interview

»Die analogen Schätze gehoben«

Noa Regev über das israelische Filmarchiv in Jerusalem und seine Online-Nutzung weltweit

von Ayala Goldmann  29.11.2021 16:25 Uhr

Frau Regev, Sie leiten die Kinemathek Jerusalem, die Ende Oktober das israelische Filmarchiv für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Wie viele Menschen haben bisher online auf den Bestand zugegriffen?
In den ersten Tagen haben wir mehr als eine Million Zugriffe von 700.000 unterschiedlichen Besuchern verzeichnet. Das hat uns selbst überrascht, denn es ist schließlich eine Archiv-Website. Aber seit wir mit der Digitalisierung begonnen haben, ist das Bewusstsein dafür gestiegen, wie wichtig es ist, dieses Material zu bewahren. Für uns ist mit dem »Israel Film Archive« ein Traum wahr geworden. Lia van Leer, die Gründerin der Kinematheken in Israel, hatte schon in den 60er-Jahren damit begonnen, Filme in Dosen unter ihrem Bett aufzubewahren. Heute haben wir die analogen Schätze aus den Regalen gehoben und können sie einem großen Publikum zeigen. Jeder kann finden, was für ihn wichtig ist und was ihn interessiert.

Welche Filme haben Sie im Angebot?
Wir haben alle möglichen Filme bekommen, die Familien auf ihrem Dachboden gefunden haben. Und manchmal sind diese Familienfilme größere historische Schätze als professionelle Aufnahmen. Plötzlich sieht man darauf Jerusalem in den 40er-Jahren in Farbe, weil irgendeine Familie eine Kamera zu Hause hatte und damit gefilmt hat. Auf einem anderen Film taucht auf einmal Albert Einstein auf … verblüffend!

Und was ist mit den professionellen Produktionen?
Natürlich ist es genauso wichtig, die Filme israelischer Regisseure zu digitalisieren. Plötzlich erinnern sich auf einmal viele Filmemacher, dass sie noch Material haben, und schicken es uns. Für Regisseure ist es übrigens jetzt viel einfacher, unser Material zu nutzen. Früher mussten mehrere Archivare nach den Filmrollen suchen. Heute braucht man einfach nur Suchbegriffe einzugeben – zum Beispiel, wenn jemand einen Film über Frauen in den 40er-Jahren drehen will.

Sie haben das Archiv in zwei Sektionen unterteilt – den »Artistic View« und den »Historical View«. Warum?
Weil wir zwei sehr unterschiedliche Arten von Material haben. Das eine sind israelische Filme und das andere historische Sammlungen. Bei Letzteren haben wir die Filme danach katalogisiert, wann, von wem und wo sie aufgenommen worden sind.

Welche populären israelischen Spielfilme – zum Beispiel aus den 50er- und 60er-Jahren – kann ich zu Hause sehen, wenn ich mich an das Archiv wende?
Der größte Schatz, den wir den Zuschauern anbieten können, ist die dokumentierte Geschichte Israels. Mich hat zum Beispiel ein Film aus dem Jahr 1921 sehr beeindruckt. Der Film heißt »Palestine« – so wurde das Land damals genannt. Christliche Pilger aus Osteuropa haben ihn gedreht. Er hält die Landschaften des Landes fest, von Norden nach Süden – eine seltene und überraschende Dokumentation. Der Film ist von Hand koloriert worden – das war noch vor der Erfindung des Farbfilms. Ich empfehle übrigens auch, Nachrichtensendungen aus vergangenen Jahrzehnten anzuschauen, um zu begreifen, wie Aktualität damals erzählt wurde.

Kommen wir zu Klassikern wie »Life According to Agfa« von Assi Dayan (1992). Dieser Film wurde unlängst restauriert …
Wir digitalisieren nicht nur, sondern wir restaurieren auch Filme – eine teure und aufwendige Angelegenheit. An den Restaurierungsarbeiten an »Life According to Agfa« waren wir beteiligt, der restaurierte Film wurde vor einigen Jahren bei der Berlinale gezeigt. Übrigens auch »Avanti Popolo« von Rafi Bukaee.

Wenn man bei Ihnen einen israelischen Film per Video on Demand ausleihen will – etwa »Shlosha Yamim Veyeled« von Uri Zohar (1967), »Zohar« von Eran Riklis (1993) oder »Sof Haolam Smola« von Avi Nesher (2004) –, kostet das derzeit 4,99 US-Dollar. Werden Sie diesen Preis konstant halten?
Wir haben nicht vor, die Preise zu erhöhen. Das Geld geht an die Rechteinhaber. Uns ist es wichtig, dass es ein Haus gibt, in dem sich das gesamte israelische Kino wiederfindet – Dokumentarfilme, Kinderfilme und seltene, alte Aufnahmen, die man sonst nirgendwo sehen kann. Durch dieses Archiv wird ein großer kultureller Schatz bewahrt. Hier gibt es eine Gelegenheit, das audiovisuelle Erbe Israels kennenzulernen und Neues zu erfahren.

Wenn ein Regisseur Ihr Material nutzen will, muss er dafür bezahlen?
Die Filme gehören teils dem Staat Israel, teils Privatleuten. Wir bewahren und konservieren das Material. Die Rechte verkaufen wir nicht. Wenn jemand etwas nutzen möchte, muss er es dem Inhaber bezahlen. Aber vor allem war uns wichtig, das Archiv für ein breites Publikum zu öffnen. Das war unser Hauptziel.

Das Projekt hat 2015 begonnen und zehn Millionen US-Dollar gekostet. Wie wurde es finanziert?
Zum Glück haben uns vor allem zwei große Stiftungen geholfen. Wir konnten so in unserem Haus ein Digitalisierungslabor einrichten. Später hat uns auch der Staat Israel unterstützt, und wir bekamen Lotto-Gelder. Heute arbeiten zwölf Mitarbeiter im Archiv, früher waren es nur drei. Aber wir werden von einigen Dutzend Forschern, Redakteuren und Autoren unterstützt. An diesem Projekt sind sehr viele Menschen beteiligt.

Sie archivieren die Filme in 4K-Qualität. Können Sie Laien die Bedeutung erklären?
Es geht um die Auflösung. Wenn man heute ins Kino geht, haben Filme eine Auflösung zwischen 2 und 4K. Und 4K ist derzeit die beste digitale Auflösung, die es gibt, um ein Bildnegativ wiederzugeben. Wir müssen uns vor Augen halten, dass ein Negativ erstaunliche Bildqualitäten hat – das sind Sonnenstrahlen, die auf Zelluloid festgehalten sind. Es ist sehr schwierig, damit zu konkurrieren, aber es gibt keine Alternative, um das Material auf Zelluloid für die Zukunft zu bewahren. Wenn wir ein Publikum zu Hause erreichen wollen, ist 4K dringend notwendig. Aber vielleicht wird es in Zukunft noch höhere Auflösungen geben, zum Beispiel 20K. Wer weiß das schon?

Mit der Leiterin der Kinemathek Jerusalem sprach Ayala Goldmann.

Das israelische Filmarchiv
Die Kinemathek Jerusalem veranstaltet das jährliche Filmfestival in Israels Hauptstadt. Die Sammlungen ihres Archivs, die jetzt allen Nutzern zugänglich sind, umfassen 96 Prozent der jemals in Israel gedrehten Filmaufnahmen und erzählen die audiovisuelle Geschichte Israels vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart nach. Es sind insgesamt 30.000 Filmtitel auf ursprünglich zwei Millionen Meter Filmrollen. Darunter ist auch eine Auswahl von über 300 israelischen Spiel- und Dokumentarfilmen. Viele Filme sind kostenlos zur Ansicht, andere stehen kostenpflichtig als »Video on Demand« bereit. Die Webseite ist auf Hebräisch und auf Englisch zugänglich.

Mehr Informationen finden Sie hier.

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen nun in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  30.04.2025

Sehen!

»Der Meister und Margarita«

In Russland war sie ein großer Erfolg – jetzt läuft Michael Lockshins Literaturverfllmung auch in Deutschland an

von Barbara Schweizerhof  30.04.2025

20 Jahre Holocaust-Mahnmal

Tausende Stelen zur Erinnerung - mitten in Berlin

Selfies auf Stelen, Toben in den Gängen, Risse im Beton - aber auch andächtige Stille beim Betreten des Denkmals. Regelmäßig sorgt das Holocaust-Mahnmal für Diskussionen. Das war schon so, bevor es überhaupt stand

von Niklas Hesselmann  30.04.2025

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025