Standpunkt

Die Ära Merkel

Stehende Ovationen für Bundeskanzlerin Angela Merkel nach ihrer Rede in der Knesset am 18. März 2008 Foto: picture-alliance/ dpa

Der 18. März 2008 war ein historischer Moment in der Geschichte Israels. Angela Merkel war auf Staatsbesuch in Israel. Eine große parlamentarische Delegation sollte die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland stärken. Ehud Olmert war Regierungschef, Benjamin Netanjahu Oppositionsführer.

Merkel war die erste ausländische Regierungschefin, die vor dem israelischen Parlament sprechen durfte – und das auf Deutsch in der Knesset. Das musste zu Protesten einiger Abgeordneter führen, und in den Debatten ging es dann auch um die Frage: Kann und darf das sein in Israel? Am Ende erlaubte man ihr, in ihrer Muttersprache zu reden.

TABUBRUCH Das war ein Tabubruch. Angela Merkel begann ihre Rede mit einigen hebräischen Worten. Dann sprach sie Deutsch. Ihre Rede wurde von den Abgeordneten mit ungewöhnlichem Beifall aufgenommen. Es war der Inhalt, der begeisterte, nicht die Form der Sprache. Die Mitglieder der Knesset standen sogar auf und applaudierten der Kanzlerin. 20 Minuten sprach sie, keine einfache Rede einer deutschen Kanzlerin im israelischen Parlament.

Etwa zehn der insgesamt 120 Abgeordneten blieben aus Protest der Rede fern, aber das bestärkte nur diesen ikonischen Moment. Das Argument der Protestierer war, dass der Klang der deutschen Sprache an die Vernichtung der Juden und nicht an die neue Kulturhauptstadt Europas erinnert.

Merkel wusste das: »Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar«, sagte sie.

Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson – in der Tat schöne Worte.

Am Ende waren es diese Worte, die die stärkste Resonanz hatten. Diese eindeutige politische Haltung wurde in der Sprache der moralischen Verpflichtung geäußert, die den Holocaust als ein einzigartiges Verbrechen der Deutschen an den Juden versteht. Angela Merkel wurde dadurch zu einer Ikone in Israel, und die Presseberichte im Land waren einhellig positiv.

SOMMERPRESSEKONFERENZ 2015 Aber diese Rede liegt nun schon lange zurück und wird von einer anderen Rede überschattet, gehalten anlässlich der Sommerpressekonferenz am 31. August 2015 in Berlin mitten in der europäischen Flüchtlingskrise. Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte damals eine neue Willkommenskultur ausrufen und Deutschland als ein weltoffenes Land positionieren. Ihr Leitspruch »Wir schaffen das« wurde zum Inbegriff dieser Kultur.

Merkel erinnerte immer wieder an die Verpflichtung aus der deutschen Vergangenheit, aber die deutsche Gegenwart sah vor allem die syrischen und muslimischen Flüchtlinge: »Die universellen Bürgerrechte waren bislang eng mit Europa und seiner Geschichte verbunden. Sie sind einer der Gründungsimpulse der Europäischen Union. Klar wurde damals: Versagt Europa in der Flüchtlingsfrage, geht diese enge Bindung an die universellen Bürgerrechte verloren. Und wenn sie zerstört ist, wird es nicht das Europa sein, das wir uns vorstellen, und nicht das Europa, das wir als Gründungsmythos auch heute weiterentwickeln müssen.«

Der Zeitgeist entwickelte sich in eine andere Richtung, er wurde europäischer. Doch dieser neue und weltoffene Zeitgeist gibt sich gleichzeitig »israelkritisch«, sieht im Antisemitismus nur noch eine Unterkategorie des Rassismus, nichts also, was den Zionismus und die partikulare israelische Staatsgründung rechtfertigen muss.

Andere Minderheiten suchen sich ihren Standort, Juden werden sogar als Repräsentanten mit weißen Privilegien beschrieben. Welche Minderheiten nun zur universalen Kategorie werden, das ist wohl eine der großen Fragen des 21. Jahrhunderts. Auch das wirkte in Israel nicht ohne Folgen nach. Merkel verlor ihren ikonischen Status – außer im weltoffenen israelischen Milieu. Sie galt nun weitestgehend als naiv und Israel den Rücken kehrend.

POSTKOLONIALISMUS Die Ära Merkel wird in Israel wohl zwischen diesen beiden Polen gesehen werden. Auf der einen Seite die Sicherheit Israels als Staatsräson, auf der anderen Seite ein weltoffenes, postkoloniales und globales Deutschland, das historische Verantwortung nicht ausschließlich auf Israel und Juden bezieht.

Für das Deutschland nach Angela Merkel wird sich auch die Frage stellen, ob sich eine offizielle Erinnerungskultur allmählich von der Holocaust-Erinnerung lösen und sich in einen neuen, weiteren Diskurszusammenhang stellen wird, der ebenso den Kolonialismus im Allgemeinen wie auch in seiner deutschen Variante umfasst. Dazu würden jetzt nicht mehr nur nationale Erinnerungen gehören, sondern auch ethnische, religiöse, transnationale und genderorientierte. Gerade in Israel kann ein solches Ansinnen nicht unwidersprochen bleiben.

Diese unterschiedlichen, aber nicht immer artikulierten zugrunde liegenden Sichtweisen werden zu gegenseitigem Misstrauen und wechselseitigen Vorwürfen führen. Diese Auseinandersetzungen sind wohl – wenigstens offiziell – bei der Absage ihres Abschiedsbesuchs in Israel nicht zur Sprache gekommen. Über allem schwebt nun der Abzug aus Afghanistan. Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson – in der Tat schöne Worte.

Der Autor ist Soziologieprofessor am Academic College of Tel Aviv-Yafo.

Hans-Jürgen Papier

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