Wuligers Woche

Deutsche Oberlehrer

Wuligers Woche

Deutsche Oberlehrer

Jakob Augstein und Ulrike Guérot erklären den Briten die Welt

von Michael Wuliger  18.12.2019 19:34 Uhr

In diesen ungewissen Zeiten ist es schön, dass wenigstens auf eines noch Verlass ist: Jakob Augstein erzählt Unsinn. Diesmal sind es die britischen Unterhauswahlen, die den Verleger zu einer kühnen intellektuellen Volte angeregt haben. Den Triumph von Boris Johnson und seinen Konservativen setzt der »Spiegel«-Erbe implizit mit nichts Geringerem als dem Siegeszug der Nazis gleich.

Auf Twitter kommentierte Augstein das Abstimmungsergebnis mit einem Zitat von Bertolt Brecht: »Das Fell für die Trommel / liefern sie selber.« Die Zeile stammt aus Brechts »Kälbermarsch«, einer Parodie auf das »Horst-Wessel-Lied« der Nazis: »Hinter der Trommel her / Trotten die Kälber / Das Fell für die Trommel / Liefern sie selber. / Der Schlächter ruft: Die Augen fest geschlossen / Das Kalb marschiert. In ruhig festem Tritt.«

1933 Immerhin muss man Augstein eines zugutehalten: Sein Nazi-Vergleich kommt nachgerade subtil daher, verglichen mit dem, was Ulrike Guérot am britischen Wahlabend tweetete: »That’s how people must have felt in 1933« – »So müssen sich die Menschen 1933 gefühlt haben«. Das schrieb nicht irgendeine unterbelichtete Twitter-Trulla. Frau Guérot ist promovierte Politikwissenschaftlerin, Professorin an der Donau-Universität im österreichischen Krems und wird oft in Fernseh-Talkshows als Europa-Expertin eingeladen. Sie zählt sozusagen zur intellektuellen Elite.

Warum versteigen sich zwei zumindest formal gebildete Menschen zu derart obszönen Gleichsetzungen?

Man muss jetzt hoffentlich hier nicht erläutern, wieso der Vergleich von Johnson mit Hitler abwegig ist. Wären 1933 so etwas wie die britischen Tories in Deutschland an die Macht gekommen, den Juden Europas – und nicht nur ihnen – wäre viel erspart geblieben. Warum versteigen sich dann zwei zumindest formal gebildete Menschen zu derart dummen und, mit Verlaub, obszönen Gleichsetzungen?

NACHBARN Die wohlwollendste Erklärung wäre Godwins Gesetz, wonach »mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion sich die Wahrscheinlichkeit eines Vergleichs mit den Nazis oder Hitler dem Wert eins annähert«. Es gibt aber auch einen anderen möglichen Grund. Augstein und Guérot sind Deutsche. Und an nichts leidet dieses Volk mehr als an der Erinnerung an seine Nationalgeschichte von 1933 bis 1945.

https://twitter.com/Augstein/status/1205584668176850944

Um seelisch damit fertig zu werden, kann man die Sache kleinreden – Stichwort: Gaulands »Vogelschiss«. Oder man greift auf das zurück, was die Römer »Tu quoque«-Argumentation nannten, heute auch als »What-aboutism« bekannt: Andere Völker sind nicht besser, siehe die Sklaverei in Amerika, die europäische Kolonialgeschichte und, last but not least natürlich, was die Israelis den Palästinensern antun. Und jetzt, schaut mal, die Briten. Wie unsere Großeltern bei Adolf. Da fühlt man sich als Deutscher gleich viel besser.

In Großbritannien weiß von diesen beiden Tweets wahrscheinlich niemand etwas. Dort kennt man weder Augstein noch Guérot. Das ist vielleicht auch besser so. Brexit-Wähler könnten sich im Nachhinein sonst nur bestätigt fühlen. Wer will schon in einem gemeinsamen Haus Europa mit solchen Nachbarn leben?

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Wieder hat sich Regisseur Philipp Stölzl kräftig vom Bestseller-Autor Noah Gordon anregen lassen

von Peter Claus  19.12.2025

Musik

Louis-Lewandowski-Festival hat begonnen

Der Komponist Louis Lewandowski hat im 19. Jahrhundert die jüdische Synagogenmusik reformiert. Daran erinnert bis Sonntag auch dieses Jahr ein kleines Festival

 18.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  18.12.2025

Ausstellung

Pigmente und Weltbilder

Mit »Schwarze Juden, Weiße Juden« stellt das Jüdische Museum Wien rassistische und antirassistische Stereotype gleichermaßen infrage

von Tobias Kühn  18.12.2025

Kulturkolumne

Vom Nova-Festival zum Bondi Beach

Warum ich keine Gewaltszenen auf Instagram teile, sondern Posts von israelischen Künstlern oder Illustratorinnen

von Laura Cazés  18.12.2025

Neuerscheinung

Mit Emre und Marie Chanukka feiern

Ein Pixi-Buch erzählt von einem jüdischen Jungen, der durch religiöse Feiertage Verständnis und Offenheit lernt

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Zahl der Woche

1437

Funfacts & Wissenswertes

 18.12.2025

Revision

Melanie Müller wehrt sich gegen Urteil zu Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was bisher bekannt ist

 18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025