Simon Schocken

Der vergessene Modernist

Berlin Pankow OT Weissensee Jüdischer Friedhof Herbert-Baum-Straße Friedhof *** Berlin Pankow OT Weissensee Jewish Cemetery Herbert Baum Straße Cemetery Foto: imago images/Jürgen Ritter

Noch heute ist der Schocken-Verlag, der in den Jahren 1933 bis 1939 im nationalsozialistischen Deutschland jüdische Literatur publizierte, ein angesehener Name. Sein Gründer, Salman Schocken, wanderte 1934 nach Palästina aus, wo er die Zeitung »Haaretz« gründete. Später ging er in die USA.

Sehr zu Unrecht verblasste neben ihm sein etwas älterer Bruder, der 1874 in Posen geborene Simon Schocken, der vergleichsweise früh 1929 verstarb. Seinem Leben und Wirken haben die Tübinger Kulturwissenschaftler Claudia Kleemann und Martin Ulmer eine anschaulich bebilderte Biografie gewidmet, die nicht nur ein Licht auf eine überaus typische Gestalt des liberalen deutschen Judentums wirft, sondern damit zugleich verdeutlicht, wogegen sich der NS-Antisemitismus in letzter Instanz richtete: gegen jede Form der Moderne.

Kaufhaus Simon Schocken war nicht nur der Begründer einer neuen Form der Warenwirtschaft, nämlich des groß- und mittelstädtischen Kaufhauses, sondern mehr noch ein wesentlicher Protagonist der städtebaulichen »Neuen Sachlichkeit«. Mit seinem Kaufhauskonzept setzte Schocken vor allem darauf, dass Warenpreise und somit die Gewinnspanne vergleichsweise niedrig sein sollten, was aber durch die dadurch ermöglichten hohen Umsätze kompensiert wurde.

Bei alledem ging es diesem genialen Kaufmann nicht nur um neue Formen des Vertriebs und Verkaufs, sondern ebenso um zeitgemäße, sozial gerechte Formen innerbetrieblicher Sozialpolitik. So richtete sich Simon Schocken 1926, er war damals 52 Jahre alt, bei der Eröffnung eines Kaufhausneubaus in Nürnberg mit folgenden Worten an seine neue Belegschaft: »Wenn Sie das Haus mit seiner klaren Form betrachten, so sehen Sie, daß darin die geraden Linien vorherrschen […]. Und ich gebe Ihnen den Rat, nicht nur in Ihrer Tätigkeit im Geschäft, sondern auch mit Ihrer ganzen Lebensführung so geradlinig, klar und einheitlich zu sein, wie es in diesem Hause architektonisch gezeigt wird.«

Simon Schocken war mit dem Architekten Erich Mendelsohn gut bekannt, wenn nicht gar befreundet. Mendelsohn (1887–1953) war nicht nur einer der führenden Architekten der Moderne, sondern schuf nach 1933 auch Gebäude in Palästina; in Jerusalem etwa eine Villa für Simon Schockens Bruder Salman. Dem öffentlichen und geschäftlichen Erfolg Schockens korrespondierte leider kein häusliches Glück. Frau und Tochter waren chronisch krank, eine Tochter starb früh – Umstände, die möglicherweise die eigentümliche Vorliebe dieses Kaufmanns für moderne jüdische Friedhofsarchitektur erklären.

Baukunst Bei der Einweihung einer Friedhofshalle in Landsberg/Warthe, die den Anspruch erhob, Rachels Grab in Hebron zu zitieren, setzte sich Schocken intensiv mit dem Verhältnis von Judentum und Baukunst auseinander – eine Beziehung, die seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels nicht mehr existierte. Gleichwohl, so Simon Schocken, sollte von der Landsberger Halle gelten: »Wir dürfen gewiss sein, dass sie zugleich auch ein Wahrzeichen und Symbol ist für eine jüdische Entwicklung, die aufwärts führt zu Echtheit und Schönheit. Ein Sinnbild der Einheit der Judenheit durch die Jahrtausende durch alle Länder der Welt.«

Daneben war Simon Schocken nicht nur bedeutendes Gründungsmitglied der Jüdischen Gemeinde in Zwickau, sondern zudem Philanthrop und Mäzen einer ganzen Reihe von Heimen für Alte, Kranke und Versehrte. Nicht zuletzt setzte er sich für eine damals aktuelle Form des sozialen Wohnungsbaus, nämlich den sogenannten Siedlungsbau, ein. Der sozialdemokratische »Vorwärts« schrieb dazu im Februar 1926: »Schocken ist der Begründer und moralische und materielle Förderer der Siedlungsgenossenschaft Zwickau-Nord, die nach seinen Ideen und Plänen eine Reihe sehr schöner Siedlungshäuser um achteinhalbtausend Mark das Stück ihren bisher zum Teil recht schlimm untergebrachten Mitgliedern gebaut hat …«

Loyalität Es war Erich Mendelsohn, der Schockens Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee schuf. Die Übersetzung der hebräischen Inschrift lautet: »Ein Mann von Loyalität und Redlichkeit/Anwalt und Diener seiner Leute/Sein großzügiges Werk wird für ihn weiterstehen/ Bis der gerechte Erlöser erscheint.« Simon Schockens Andenken wurde freilich nicht überall angemessen gewürdigt: Schändlicherweise ließ die Stadt Stuttgart 1960 das von Bomben nicht zerstörte, von Erich Mendelsohn gestaltete ehemalige Kaufhaus Schocken abreißen.

Claudia Kleemann und Martin Ulmer: »Simon Schocken. Jüdischer Kaufhauspionier, Philanthrop, Gestalter«. Schmetterling, Stuttgart 2020, 224 S., 29,80 €

Berlin

Neue Nationalgalerie zeigt, wie Raubkunst erkannt wird

Von Salvador Dalí bis René Magritte: Die Neue Nationalgalerie zeigt 26 Werke von berühmten Surrealisten. Doch die Ausstellung hat einen weiteren Schwerpunkt

von Daniel Zander  17.10.2025

Theater

K. wie Kafka wie Kosky

Der Opernregisseur feiert den Schriftsteller auf Jiddisch – mit Musik und Gesang im Berliner Ensemble

von Christoph Schulte, Eva Lezzi  17.10.2025

Frankfurter Buchmesse

Schriftsteller auf dem Weg zum Frieden

Israelische Autoren lesen an einem Stand, der ziemlich versteckt wirkt – Eindrücke aus Halle 6.0

von Eugen El  17.10.2025

Kino

So beklemmend wie genial

Mit dem Film »Das Verschwinden des Josef Mengele« hat Kirill Serebrennikow ein Meisterwerk gedreht, das kaum zu ertragen ist

von Maria Ossowski  17.10.2025

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Esther Abrami

Die Klassik-Influencerin

Das jüngste Album der Französin ist eine Hommage an 14 Komponistinnen – von Hildegard von Bingen bis Miley Cyrus

von Christine Schmitt  16.10.2025

Berlin

Jüdisches Museum zeichnet Amy Gutmann und Daniel Zajfman aus

Die Institution ehrt die frühere US-Botschafterin und den Physiker für Verdienste um Verständigung und Toleranz

 16.10.2025

Nachruf

Vom Hilfsarbeiter zum Bestseller-Autor

Der Tscheche Ivan Klima machte spät Karriere – und half während der sowjetischen Besatzung anderen oppositionellen Schriftstellern

von Kilian Kirchgeßner  16.10.2025

Kulturkolumne

Hoffnung ist das Ding mit Federn

Niemand weiß, was nach dem Ende des Krieges passieren wird. Aber wer hätte zu hoffen gewagt, dass in diesen Zeiten noch ein Tag mit einem Lächeln beginnen kann?

von Sophie Albers Ben Chamo  16.10.2025