Es gibt diesen Witz, in dem ein kleiner Junge mit seiner Familie an Erew Rosch Haschana beim Essen sitzt und seinen Apfel in den Honig tunkt. Als er ihn probiert, verzieht er sofort das Gesicht. Die Mutter fragt ihn: »Nu, schmeckt’s dir nicht süß genug?«, worauf der Junge antwortet: »Doch, Mama, der Honig ist süß. Aber weißt du, was noch süßer wäre?« Daraufhin fragt die Mutter überrascht: »Was denn?« Die Antwort: »Wenn Papa nicht gleich wieder mit seiner Rosch-Haschana-Predigt anfängt.« Der Witz fasst alles zusammen, er ist sozusagen symptomatisch für diesen Feiertag, der sich erdreistet, als einer der wichtigsten im jüdischen Kalender zu erscheinen.
Rosch Haschana ist so ein bisschen der Dandy unter den Feiertagen. Ganz im Unterschied zu seinem großen Bruder Jom Kippur, der besser zu ertragen ist, weil er ehrlich wirkt. (Du gehst in dich hinein, isst nichts und fertig.) Doch Rosch Haschana kommt elegant daher (wunderbare Melodien) und gibt sich unglaublich wichtig (Neujahr). Dekoriert sich mit Süße (Honig bis zum Abwinken!) und brüstet sich mit Relevanz (markiert Anfang und Ende). Gleichzeitig hat der Feiertag etwas Schweres, angereichert mit einer Prise Langweile, was geradezu Unbehagen auslöst – jedenfalls bei mir. Die Aussicht auf stundenlanges Verweilen in der Synagoge – bereits mein Vater kritzelte als kleiner Junge in der örtlichen Synagoge seine Initialen in die Holzbänke, als ihm langweilig war. Der Gedanke an weiß gedeckte Tafeln mit Unmengen an Essen inklusive tagelanger Kocherei im Voraus (okay, mache ich nicht) und spätsommerlich warme Temperaturen, die wie Schneewittchens Stiefmutter (Achtung, Topos Apfel!) zum Rausgehen verführen – all das versetzt mich nicht gerade in Vorfreude. Vielmehr versuche ich zu prokrastinieren und entziehe mich der mir aufgebürdeten jüdischen Verantwortung, über Sinn und Selbstprüfung nachzudenken. Also wohne ich mit Hingabe den Bastelarbeiten für Neujahrskarten (mit Granatäpfeln, wohlgemerkt) meiner Kinder bei, überlege mir, wo es in den Herbstferien hingehen könnte, und schaffe mir gedanklich Raum für diese Feiertagsepisode, die sich nun anbahnt.
Ein schlechtes Gewissen plagt mich natürlich schon, wenn ich so über Rosch Haschana herziehe. Schließlich gibt der Feiertag auch Anlass zum Zusammenkommen. Aber das zelebrieren wir ja jeden Freitagabend. Und im Vergleich zu Pessach, Sukkot oder auch Chanukka (ich weiß, kein Feiertag!) verzichtet Rosch Haschana beinahe in arroganter Manier auf Interaktion, Ritual und Lebensfreude. Natürlich weiß ich, dass es der Feiertag in der jüdischen Tradition ist, an dem die Menschen »zur Rechenschaft gezogen« werden. Daran kann man glauben oder nicht. Doch darin liegt vermutlich auch der Ursprung dieser Schwere, die sich wie eine dunkle Wolke über diese zwei Tage legt. Ich brauche eine Strategie, um diese Last loszuwerden. Hierfür habe ich noch ein paar wenige Tage Zeit. Also ziehe ich »Ottolenghi« aus dem Bücherregal und gehe der Frage nach, was ich für zehn Leute kochen könnte – an Rosch Haschana.