Glosse

Der Rest der Welt

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Jedes Jahr im Frühsommer wechsle ich für zwei Tage den Beruf. Dann sitze ich von morgens bis nachmittags in einem Klassenzimmer an der Kantonsschule und bin Beisitzerin bei den Deutsch- und Geschichtsmaturen. Kleines Glossar aus dem Schweizer Bildungssystem: Die Kantonsschule ist das Gymnasium, die Matura das Abitur.

Vielleicht ist Matura sogar der präzisere Begriff für diese schier unerreichbar große Prüfung im Leben eines jungen Menschen, der sich an der Schwelle zum Erwachsenwerden befindet. Nicht eindeutiger als dann, wenn klar wird, was Reife (von dem lateinischen Adjektiv »maturus«: reif, erwachsen) tatsächlich bedeutet. Nämlich, wenn kaum 18-Jährige pro Unterrichtsfach eine viertelstündige Prüfung absolvieren und damit kognitive Höchstleistungen erbringen sollten.

Ihr Oszillieren zwischen gerade noch Kind gewesen zu sein und nun messerscharfen Reflexionen über literarische Zusammenhänge oder die Weltgeschichte im Rückblick katapultiert die einen zur Bestnote, die anderen zu knapperen Resultaten. Jedes Mal leide ich mit, wenn ich feststelle, wie die Person, die mir schräg gegenübersitzt, nicht die Sprache findet, um den Gedanken treffend auszuformulieren oder vor Nervosität rote Flecken am Hals bekommt. Wenn eine Schülerin nach der Prüfung nicht mehr zurückblickt, weil ihr die Tränen in die Augen gestiegen sind. Sie wusste offenbar mehr, genauso wie sie auch wusste, dass sie ihr Wissen nicht zum Besten geben konnte.

Ich denke an aktuelle Konflikte, an den 7. Oktober 2023 und wie asymmetrisch der Krieg in Gaza ist, den die Hamas provoziert hat. Dieser Konflikt war diesmal kein Thema. Warum auch?

Es beschäftigt mich aber auch, wenn ein Prüfling überzeugt von seiner Performance den Raum verlässt und sich kaum verabschiedet, weil es vielleicht doch nicht ganz so cool war. Aber ich spüre auch die Freude der nächsten Kandidatin, die mit einem Lächeln aufsteht und damit einfach nur zugibt, dass es nach wochenlanger Pflichtlektüre von Francis Fukuyama, Yuval Harari oder Samuel P. Huntington irgendwie Spaß macht, die Politik- und Geschichtswissenschaftler zumindest imaginär auf der Bühne des Schulzimmers gegeneinander antreten zu lassen.

Ich höre zu, protokolliere und bespreche im Nachgang mit den Lehrerinnen und Lehrern jede einzelne Prüfung. Der Tag ist lang, auch meine Konzentration schwindet langsam. Manchmal drifte ich mit meinen Gedanken ab, vor allem dann, wenn ich realisiere, in welche Richtung sich unsere Gegenwart katapultierte, als dass all die besagten Theorien in einer einzigen Realität münden: nämlich in der des asymmetrischen Krieges.

Ich denke an aktuelle Konflikte, an den 7. Oktober 2023 und wie asymmetrisch der Krieg in Gaza ist, den die Hamas provoziert hat. Dieser Konflikt war diesmal kein Thema. Warum auch? Es gibt viele andere Konflikte, die »stofflich zu behandeln« sind. Die letzte Viertelstunde ist vorbei. Noch eine abschließende Bewertung, dann sind wir fertig für heute. Und ab morgen bin ich wieder in meinem richtigen Beruf tätig.

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