Kolumne

Der Rest der Welt

Pessach ist die Zeit unserer Volkswerdung. Vor vielen Jahren sind wir aus Ägypten in die Wüste gezogen und haben dort die Tora erhalten. Verschiedene Erlebnisse haben uns dort aneinander geschmiedet und uns zu dem werden lassen, was wir heute sind. Eine andere Transformation hat meine Frau vorletzte Woche erfahren. Sie ist Schweizerin geworden. Als ihr Mann wurde ich ebenfalls zur »Neubürgerfeier« in Zürichs größter Halle eingeladen. 900 neue Schweizerinnen und Schweizer haben sich versammelt, und es wehte ein Hauch Pessach-Befreiung im angenehm geheizten Kongresshaus.

Ein Politiker, der es nicht gewohnt ist, vor so vielen Leuten zu reden, begrüßte die neuen Bürger im Namen der Stadtregierung, des Gemeinderats, des Kantonrats, der verschiedenen Ämter, aber auch der Stadtpräsidentin – die gerade Ferien macht – und vielen anderen Kommissionen.

Der Politiker zählte statistisch auf, aus welchen Ländern die neuen Staatsbürger kommen. Die meisten sind Deutsche, Franzosen, Türken. Nur einer kommt aus Togo. Ich blickte mich im Saal um. Die meisten Personen hatten keine Lust, etwas Schönes anzuziehen. Viele Männer kamen in Jeans. Manche brachten ihre Kinder mit. Auch in Ägypten sind die Juden nicht in Festtagskleidern ausgezogen.

Kleiderprobe Die Zeit drängte, und man musste schnell handeln. So war es auch im Kongresshaus. Nur zwei Frauen brauchten länger als zehn Minuten bei der Kleideranprobe. Sie kamen aus Pakistan und hatten komplizierte Tücher über sich geworfen, sodass man nur noch ein bisschen vom Gesicht erkennen konnte. Sie sind jetzt auch Schweizerinnen, so wie meine Frau. Letztgenannte hatte es ein bisschen einfacher als die meisten anderen. Da sie mit mir als Schweizer verheiratet ist, musste sie nur ein paar Jahre mit mir zusammenleben und über 1000 Franken zahlen.

Ich guckte sie von der Seite an – also meine Frau. Schweizerin? Kennt sie wirklich unsere Seele? Weiß sie, wann die Schlacht von Sempach stattfand? Könnte sie die Namen unserer 200 Nationalräte aufzählen? Ein tiefer Seufzer entwich aus meiner Brust.

Es gibt 18 Millionen Juden, aber nur acht Millionen Schweizer. So gesehen sind die Schweizer noch auserwählter als die Juden. Im Unterschied zur jüdischen Religion muss man sich hier aber nichts abschneiden lassen und dem Rabbiner hoch und heilig versprechen, sämtliche Gesetze des Judentums zu befolgen.

Meine Frau, die Schweizerin. Jetzt kommt es auf mich an. Ich muss ihr jetzt langsam die Gebräuche unserer Nation nahe bringen. Zum Beispiel wenn der Nachbar seit Monaten Zigaretten in unseren Garten wirft. Als Schweizer – das muss sie noch lernen – geht man zu ihm und entschuldigt sich, dass man jetzt vielleicht stört, Entschuldigung! Und dürfte man ihn vielleicht bitten, aber nicht aufdringlich, dass er die Zigaretten – bitte – in den anderen Nachbarsgarten wirft, ja? Oder? So läuft das bei uns.

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Rache

»Trigger-Thema« für Juden

Ein Filmseminar der Jüdischen Akademie untersuchte das Thema Vergeltung als kulturelle Inszenierung

von Raquel Erdtmann  01.12.2025

Wuppertal

Schmidt-Rottluff-Gemälde bleibt in Von der Heydt-Museum

»Zwei Frauen (Frauen im Grünen)« von Karl Schmidt-Rottluff kann im Von der Heydt Museum in Wuppertal bleiben. Nach Rückgabe an die Erbin erwarb die Stadt das Bild von ihr. Vorausgegangen waren intensive Recherchen zur Herkunft

 01.12.2025

Dorset

»Shakespeare In Love« - Dramatiker Tom Stoppard gestorben

Der jüdische Oscar-Preisträger war ein Meister der intellektuellen Komödie. Er wurde 88 Jahre alt

von Patricia Bartos  01.12.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 30.11.2025 Aktualisiert

Gerechtigkeit

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz 

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz Jahrzehnte nach Ende des NS-Regimes hoffen Erben der Opfer immer noch auf Rückgabe von damals geraubten Kunstwerken. Zum 1. Dezember starten Schiedsgerichte. Aber ein angekündigter Schritt fehlt noch

von Verena Schmitt-Roschmann  30.11.2025

Berlin

Späte Gerechtigkeit? Neue Schiedsgerichte zur NS-Raubkunst

Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Zeit kämpfen Erben jüdischer Opfer immer noch um die Rückgabe geraubter Kunstwerke. Ab dem 1. Dezember soll es leichter werden, die Streitfälle zu klären. Funktioniert das?

von Cordula Dieckmann, Dorothea Hülsmeier, Verena Schmitt-Roschmann  29.11.2025

Interview

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  29.11.2025