Glosse

Der Rest der Welt

Warum ich bei bestimmten Melodien weinen muss

von Nicole Dreyfus  17.07.2024 07:30 Uhr

Nicole Dreyfus Foto: Claudia Reinert

Warum ich bei bestimmten Melodien weinen muss

von Nicole Dreyfus  17.07.2024 07:30 Uhr

Gleich vorweg, ich bin ganz und gar kein religiöser Mensch. Und doch frage ich mich immer wieder, was letztlich dazu führt, dass ich mich so stark als jüdische Person identifiziere. Natürlich die jüdische Erziehung, natürlich die Geschichte meiner Vorfahren, natürlich die jüdische Kultur, mit der ich aufgewachsen bin. Aber reicht das? Gibt es da nicht noch etwas? Ein kleines Korn vielleicht, das ganz tief in meinem Inneren wurzelt und diese Jüdischkeit in mir ausschüttet – und zwar jedes Mal, wenn ich es nicht erwarte, sodass sie mich zu Tränen rührt.

Es gibt diesen Moment. Er findet meistens statt, wenn ich eine besondere Form von israelischer Musik höre. Genau dann wird nicht nur ein einzelnes Korn gestreut, sondern eine ganze Tüte davon. Erst jucken die Augen, nein, es brennt schon fast, und der Wasserpegel in den Lidern schwillt unweigerlich an. Woran liegt das? Ich weiß es nicht. Es spielt keine Rolle, ob es die Klänge der »Hatikva«, von »Adon Olam« oder »Mi scheberach le chalet zahal« sind, die anklingen. Es hat auch nichts mit der Moll-Tonart zu tun. (»Adon Olam« ist in Dur komponiert.)

Warum hebt bei mir der Tränenpegel immer genau dann an, wenn ich Lieder in hebräischer Sprache höre? Es geschieht natürlich nicht bei allen. Es ist vielmehr eine ganz bestimmte Sorte von Shirim, eine seltsame Beschaffenheit von Melodien in Kombination mit der hebräischen Sprache, die diese Empfindung ergeben, damit Signale an mein Gehirn ausgesendet werden, die wiederum meine Stresshormone aktivieren – mit der Folge, dass ich weine.

Die jüdische Identität ist keine Identität der Narben und des Leidens. Es ist eine Identität des Weiterlebens.

Mein jüngster Dammbruch erfolgte beim Kindergartenabschlussfest meiner Tochter. Die Kinder bereiteten eine liebevoll gestaltete Aufführung vor. Gegen Ende des Stücks sangen sie »Am Israel Chai« von Eyal Golan. Noch bevor der Refrain über die Lippen dieser Sechsjährigen glitt, fing dieses mir allzu bekannte Zucken in den Augen wieder an. Und ehe ich mich versah, flossen die Tränen. Das war vielleicht nur der mütterliche Stolz, die ganze Spannung vor den Sommerferien, die sich abbaut, die dazu beigetragen hatten?

Nein, mitnichten. Es war wieder genau dieses jüdische Korn in der Textur eines Liedes wie »Am Israel Chai«, welches das Weinen ausgelöst hatte. Dazu der Kontext dieses Songs, der elf Tage nach dem 7. Oktober herauskam. Die Kinder sind sich der Tragweite eines solchen Liedes kaum bewusst. Aber für mich war es erneut diese – mit Verlaub – »toxische Mischung«, die Melodie und Sprache ausmachten.

Ein guter Bekannter fragte mich nach dem Fest, ob ich denn weinen musste. Ja – und zwar aus dem Grund, weil mich meine jüdische Identität in exakt diesem Augenblick schon fast schmerzend wissen ließ, wo ich hingehöre. 2000 Jahre Geschichte und Herkunft werden in dem Moment symbiotisch gebündelt und durch Musik transportiert. Was sonst lässt jüdische Menschen auf der ganzen Welt, und verstehen sie auch kein Wort Hebräisch, beim Klang solcher Musik innerlich zutiefst berührt zucken, gar weinen? Die jüdische Identität ist keine Identität der Narben und des Leidens. Es ist eine Identität des Weiterlebens. Am Israel Chai.

Comic

Es lebe der Balagan!

Die israelische Illustratorin Einat Tsarfati legt ein aufgeräumtes Buch über Chaos vor

von Tobias Prüwer  14.12.2024

Düsseldorf

»Seine Prosa ist durchdrungen vom tiefen Verständnis und empathischer Nähe«

Der Schriftsteller David Grossman wurde am Samstag mit dem Heine-Preis ausgezeichnet

 14.12.2024

Alexander Estis

»Ich bin Pessimist – aber das wird bestimmt bald besser«

Der Schriftsteller über die Folgen der Kriege in der Ukraine und Nahost, Resilienz und Schreiben als Protest

von Ayala Goldmann  12.12.2024

Kino

Film-Drama um Freud und den Lieben Gott

»Freud - Jenseits des Glaubens« ist ein kammerspielartiges Dialogdrama über eine Begegnung zwischen Sigmund Freud und dem Schriftsteller C.S. Lewis kurz vor dem Tod des berühmten Psychoanalytikers

von Christian Horn  12.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 12. Dezember bis zum 18. Dezember

 12.12.2024

London

Hart, härter, Aaron Taylor-Johnson

Ein Marvel-Schurke zu sein, ist körperlich extrem anstrengend. Dies räumt der jüdische Darsteller nach dem »Kraven The Hunter«-Dreh ein

 11.12.2024

PEN Berlin

»Gebot der geistigen und moralischen Hygiene«

Aus Protest gegen Nahost-Resolution: Susan Neiman, Per Leo, Deborah Feldman und andere verlassen den Schriftstellerverein

 11.12.2024

Medien

»Stern«-Reporter Heidemann und die Hitler-Tagebücher

Es war einer der größten Medienskandale: 1983 präsentierte der »Stern« vermeintliche Tagebücher von Adolf Hitler. Kurz darauf stellten die Bände sich als Fälschung heraus. Ihr »Entdecker« ist nun gestorben

von Ann-Kristin Wenzel  10.12.2024

Imanuels Interpreten (2)

Milcho Leviev, der Bossa Nova und die Kommunisten

Der Pianist: »Ich wusste, dass ich Bulgarien verdammt zügig verlassen musste«

von Imanuel Marcus  10.12.2024