Finale

Der Rest der Welt

Spaghetti mit Tora? Unmöglich! Foto: Getty Images/iStockphoto

Die Familie Frenkel besitzt seit vier oder fünf Generationen eine eigene Sefer Tora, also eine Torarolle aus Pergament. Mein Ur- oder Ururgroßvater flüchtete zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Pogromen. Seine erste Station war Wien, danach Zürich. Immer im Gepäck die Sefer Tora.

Religiös war er überhaupt nicht. Aber die Sefer Tora, die musste mit. So ganz genau weiß ich die Hintergründe nicht. Als ich meine Oma einmal über die Geschichte unserer Torarolle ausfragen wollte, war sie schon dement.

Nun, die Tora wanderte von einer jüdischen Kleingemeinde in der Schweiz zur anderen. Momentan befindet sie sich auf unserem Esstisch. Das ist aber nur eine Zwischenphase. Nächste Woche werde ich sie nach Winterthur bringen. Winterthur, wieder so eine Kleingemeinde, in der Nähe von Zürich.

Bettlaken Wir haben die Tora in ein großes Bettlaken gehüllt. Es sieht jetzt so aus, als hätten wir eine Leiche in unserer Wohnung. Auf dem Esstisch. Die Torarolle ist natürlich heilig. Ich weiß nicht, ob es korrekt ist, dass ich sie auf einem ganz normalen Tisch positioniert habe.

Aber wir haben nichts Heiligeres zu Hause. Sie bleibt ja nicht lange dort. In sieben Tagen ist sie wieder in einem Schrein. Wenn ich neben der Torarolle einen Teller Spaghetti esse, denke ich viel an ihre Geschichte.
Mein Ur- oder Ururgroßvater muss kräftige Arme gehabt haben. Er hat sie ja von Russland bis nach Zürich getragen. Die Frenkel-Tora ist leider sauschwer.

Früher befand sie sich in der Gemeinde Baden. Das ist auch eine Stadt in der Nähe von Zürich. Überhaupt gelten in der Schweiz nur zwei Orientierungshilfen: in der Nähe von Zürich oder entfernt.

Wochenabschnitt Genau, Baden. Da gab es den Herrn Wolff. Ein alter, klappriger Mann. Wir bekamen es immer mit der Angst zu tun, wenn Herr Wolff die Tora in die Höhe stemmte. Das macht man, wenn man am Schabbat den Wochenabschnitt zu Ende vorgetragen hat. Zum Glück ist nie etwas passiert. Herr Wolff zitterte zwar mit seinen Ärmchen und Beinchen. Aber nie ließ er sie fallen.

In Winterthur muss ich nichts befürchten. Da gibt es viele junge Männer, die ins Fitnessstudio gehen. Die werden die Frenkel-Tora hoch in die Luft stemmen. Wir machen natürlich ein kleines Einweihungsfest. Die ganze Gemeinde ist eingeladen – und Freunde und Familie. 100 Jahre alt ist die Torarolle und für Winterthur enorm wichtig, das habe ich zumindest gehört.

Ja, ich bin schon ein bisschen stolz. Und meinem Ur- oder Ururgroßvater zu Dank verpflichtet.

Marko Dinić

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