Finale

Der Rest der Welt

Im Visier: die Müslimotte Foto: Getty Images/iStockphoto

Es war kurz nach Pessach, an einem schönen Frühlingsabend, als ein leider allzu gut bekanntes Flugobjekt durch unser Küchenfenster flatterte. »Verschwinde, elende Motte!«, schrie ich den Falter an und breitete die Handflächen aus.

ESSIGREINIGER Mein Sohn sah mich traurig an: »Die Motte hat doch auch ein Recht auf Leben ...« »Nicht in meiner Küche!«, rief ich und merkte, wie sich Hass in mir ausbreitete. Schon im vergangenen Herbst hatte ich einen Feldzug gegen die Müslimotte, bekannt auch als Mehlmotte (Ephestia kuehniella), geführt, alle Schränke mit Essigreiniger ausgewischt, jeden winzigen Rest von Reis und Nudeln in Gläsern verstaut. Trotzdem sind die Motten zurückgekehrt.

Das war ein Fehler, den sie bereuen werden. Denn nichts brauche ich in Zeiten von Corona dringender als einen besiegbaren Gegner. »Merkt euch eins«, sagte ich zu meinem Mann und meinem Sohn, »die Müslimotte ist unser Feind! Gegen Corona gibt es noch keinen Impfstoff. Aber wenn ich hier noch einmal eine Motte sehe, garantiere ich für nichts.«

FALLEN In den Küchenschrank stellte ich zwei Fallen, am nächsten Morgen rief ich die Männer um acht Uhr zum Appell. »Wer ist unser Feind?«, fragte ich. »Die Müslimotte«, sagte mein Sohn folgsam. Ein Propagandaerfolg, den ich am Abend gerne wiederholen wollte. »Unser Feind ist … ?«, fragte ich zwölf Stunden später. Mein Sohn sah von seinem Lateinbuch auf und sagte: »Hannibal!«

Nur allzu gerne würde ich den Müslimotten ein Ende bereiten, das dem des karthagischen Feldherrn ähnelt. Doch Hannibal wurde nicht an einem Tag geschlagen, und auch ich muss mich mit kleinen Erfolgen begnügen, im Home­office in der Küche, wo mein Sohn ständig um mich herumschwirrt und auf meinen Bildschirm starrt. »Wenn du über mich schreibst, will ich alles vorher lesen«, verlangt er.

»Was ist dein Thema?«, wollte mein Mann wissen, als er nach Hause kam. »Die Müslimotte«, sagte ich. »Aha. Die Müslimotte und die jüdische Frage«, war seine Reaktion. Noch während ich über Hannibals Elefanten, die Juden und die Mottenfrage nachdachte, rief eine Freundin an und prophezeite, das Coronavirus sei der Anfang vom Ende der westlichen Zivilisation. »Sieh doch nicht so schwarz«, sagte ich.

WELTUNTERGANG Ich würde schon sehen, was ich davon hätte, wenn ich nicht an den Weltuntergang glaubte, sagte die Freundin. Eine zweite erzählte mir verzweifelt, dass sich ihre Söhne vor Frust über das Homeschooling im Kinderzimmer prügeln. Eine dritte Freundin hat einen Verschwörungstheoretiker als Chef, der Corona für eine Erfindung der italienischen Mafia hält.

Doch wozu Probleme wälzen, die ich nicht lösen kann – in Zeiten, wo nicht einmal die Putzfrau kommt? Mein neues Vorbild ist Beppo Straßenkehrer aus Momo: »Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich.« ... Ich habe mir eine weitere Flasche Essigreiniger und eine neue Spezialfalle gekauft. Mit Motten-Sekundenkleber. Wehe der Müslimotte, die sich jetzt noch in unsere Küche verirrt!

Glosse

Rest der Welt

Fettiges zu Chanukka? Mir wird gleich schlecht ...

von Joshua Schultheis  15.12.2024

Comic

Es lebe der Balagan!

Die israelische Illustratorin Einat Tsarfati legt ein aufgeräumtes Buch über Chaos vor

von Tobias Prüwer  14.12.2024

Düsseldorf

»Seine Prosa ist durchdrungen vom tiefen Verständnis und empathischer Nähe«

Der Schriftsteller David Grossman wurde am Samstag mit dem Heine-Preis ausgezeichnet

 14.12.2024

Alexander Estis

»Ich bin Pessimist – aber das wird bestimmt bald besser«

Der Schriftsteller über die Folgen der Kriege in der Ukraine und Nahost, Resilienz und Schreiben als Protest

von Ayala Goldmann  12.12.2024

Kino

Film-Drama um Freud und den Lieben Gott

»Freud - Jenseits des Glaubens« ist ein kammerspielartiges Dialogdrama über eine Begegnung zwischen Sigmund Freud und dem Schriftsteller C.S. Lewis kurz vor dem Tod des berühmten Psychoanalytikers

von Christian Horn  12.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 12. Dezember bis zum 18. Dezember

 12.12.2024

London

Hart, härter, Aaron Taylor-Johnson

Ein Marvel-Schurke zu sein, ist körperlich extrem anstrengend. Dies räumt der jüdische Darsteller nach dem »Kraven The Hunter«-Dreh ein

 11.12.2024

PEN Berlin

»Gebot der geistigen und moralischen Hygiene«

Aus Protest gegen Nahost-Resolution: Susan Neiman, Per Leo, Deborah Feldman und andere verlassen den Schriftstellerverein

 11.12.2024

Medien

»Stern«-Reporter Heidemann und die Hitler-Tagebücher

Es war einer der größten Medienskandale: 1983 präsentierte der »Stern« vermeintliche Tagebücher von Adolf Hitler. Kurz darauf stellten die Bände sich als Fälschung heraus. Ihr »Entdecker« ist nun gestorben

von Ann-Kristin Wenzel  10.12.2024