Nachruf

Der Augenöffner

Autor, Regisseur, Hochschullehrer: Ivan Nagel (1931–2012) Foto: dpa

Kennengelernt habe ich Ivan Nagel Anfang der 90er-Jahre als Student in einem stickigen heißen Raum, der zur Berliner Hochschule der Künste, der heutigen UdK, gehörte. In diesem fensterlosen Dachzimmer ging es Stund um Stund um nichts weiter als um ein einziges Bild: den »Schwur der Horatier« von Jacques-Louis David.

An diesem einen Gemälde hat uns jungen Ahnungslosen Ivan Nagel die Kunstgeschichte der Aufklärung aufgeblättert, uns mal eben an ein paar Pinselstrichen die europäische Zeiten- und Geisteswende um 1784 hinter die Ohren geschrieben.

Für mich als Greenhorn aus der schwäbischen Provinz, der an die Bildwelt des barocken Überschwangs gewöhnt war, hatten die drei abgebildeten Horatier in etwa dieselbe Verve wie Pinocchio beim Einschlafen. Da war nichts zu sehen, nichts zu erkennen, nichts zu deuten – bis Ivan Nagel mir die Augen öffnete.

kulturgeschichte Nagel zählte zu einer Goldenen Generation von Lehrern im gerade zu Ende gehenden West-Berlin, Männer von schier atemberaubendem Wissen und Verstand, die, wie Peter Wapnewski an nur einer mittelhochdeutschen Verszeile mal eben das dunkle Mittelalter beleuchten, wie Norbert Miller am ersten Satz eines Romans den Übergang von Romantik zu Empfindsamkeit diagnostizieren und wie Wolfgang Wolters an einer venezianischen Holzdecke die Wiedergeburt der Antike begreiflich machen konnten. (Gibt es so etwas heute eigentlich noch?)

Nagels Erhellungen des Horatierschwurs hatten mit Theater auf den ersten Blick nichts zu tun, jenem Fach, in und mit dem der 1931 geborene Kettenraucher die meiste Zeit seines Lebens beschäftigt war. Das Theater war für ihn jedoch nur das Hauptmedium, in dem sich Kulturgeschichte spiegelte. Dieser Mann konnte uns anhand von Mozarts Zauberflöte die Welt erklären, in der wir lebten. Das als vortrefflich zu bezeichnen, wäre glatte Untertreibung!

Von der Weite und Vielfalt seines Intellekts zeugen auch Ivan Nagels Schriften. Dabei ging es ihm nie um arrogante Zurschaustellung von Wissen oder eitle Klugscheißerei, sondern um politische Haltung, um Einmischung. Wer Lust hat auf einen streitbaren Menschen, der sich geistreich zu Wort meldet, der sich empört über verlogene (Kultur-)Politik, der sollte sein Falschwörterbuch oder seine Streitschriften lesen. Da lehnt sich einer weit aus dem Fenster, aber einer, der sich das durch seinen Sachverstand wirklich auch leisten kann.

überlebender Persönlich habe ich Ivan Nagel nach dem Studium wieder aus den Augen verloren, auch wenn sich die Wege zuweilen kreuzten, im Theater, im Flieger, in Ausstellungen. Erst später habe ich »bemerkt«, dass Ivan Nagel Jude war. Das war mir lange Zeit nie in den Sinn gekommen, weil es nicht im Vordergrund stand bei diesem Menschen. Dabei muss das Judentum eine wichtige Rolle für ihn gespielt haben. Ivan Nagel konnte nur deshalb die Schoa überleben, weil er und seine Familie seinerzeit in Budapest untergetaucht waren.

Ebenso wenig stand im Vordergrund, dass Ivan Nagel homosexuell war. Es heißt, Adorno habe seinerzeit in finstergrauen BRD-Jahren verhindert, dass sein schwuler jüdischer Student als »unerwünschter Ausländer« abgeschoben wurde. Zum Glück: Ivan Nagel blieb im Land der Täter, um dessen Geist zu erhellen. Am Montag, den 9. April, ist er im Alter von 80 Jahren gestorben.

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Esther Abrami

Die Klassik-Influencerin

Das jüngste Album der Französin ist eine Hommage an 14 Komponistinnen – von Hildegard von Bingen bis Miley Cyrus

von Christine Schmitt  16.10.2025

Berlin

Jüdisches Museum zeichnet Amy Gutmann und Daniel Zajfman aus

Die Institution ehrt die frühere US-Botschafterin und den Physiker für Verdienste um Verständigung und Toleranz

 16.10.2025

Nachruf

Vom Hilfsarbeiter zum Bestseller-Autor

Der Tscheche Ivan Klima machte spät Karriere – und half während der sowjetischen Besatzung anderen oppositionellen Schriftstellern

von Kilian Kirchgeßner  16.10.2025

Kulturkolumne

Hoffnung ist das Ding mit Federn

Niemand weiß, was nach dem Ende des Krieges passieren wird. Aber wer hätte zu hoffen gewagt, dass in diesen Zeiten noch ein Tag mit einem Lächeln beginnen kann?

von Sophie Albers Ben Chamo  16.10.2025

Literatur

»Der Krieg liegt hinter uns, und es sieht aus, als ob es dabei bleibt«

Assaf Gavron über die Entwicklungen im Nahen Osten und seinen Besuch als israelischer Schriftsteller bei der Frankfurter Buchmesse

von Ayala Goldmann  16.10.2025

Ariel Magnus

Fabulieren mit Berliner Biss

Der Argentinier und Enkel von deutschen Juden legt einen urkomischen Roman über das Tempelhofer Feld vor

von Alexander Kluy  16.10.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 17. Oktober bis zum 23. Oktober

 16.10.2025

Marko Dinić

Das große Verschwinden

Der serbisch-österreichische Autor füllt eine Leerstelle in der Schoa-Literatur

von Katrin Diehl  13.10.2025