Interview

»Dem Westen fehlt vitale Energie«

»Eine ideale Gesellschaft wäre aufgebaut wie ein Kibbuz«: Radu Mihaileanu Foto: promo

Interview

»Dem Westen fehlt vitale Energie«

Der »Konzert«-Regisseur Radu Mihaileanu über jüdische Filme, die östliche Seele und das deutsche Publikum

von Jörg Taszman  27.07.2010 16:48 Uhr

Radu Mihaileanu, wie sind Sie auf die Idee für Ihren Film gekommen?
2001 ist tatsächlich ein falsches Bolschoi-Orchester in Hongkong aufgetreten. Ein Produzent hatte den Einfall, daraus einen Film zu machen, mit Paris als Schauplatz. Mit meinem Ko-Autor bin ich für drei Wochen nach Moskau gefahren, wo wir viele Interviews führten. Dabei erfuhr ich, dass Breschnew in den 80er-Jahren alle Juden des Bolschoi-Orchesters hatte feuern lassen, weil viele jüdische Musiker bei Auslandsauftritten abhauten und dann im Westen das Regime kritisierten. Jewgeni Swetlanov, ein großer Dirigent, wehrte sich dagegen, obwohl er kein Jude war, und wurde auch gefeuert. Aus all diesen Zutaten entstand das Drehbuch und später der Film.

Sie bezeichnen »Das Konzert« als einen persönlichen Film. Warum?
Weil ich auch im Osten aufgewachsen bin und mich das bis heute verfolgt. Seit ich in Frankreich lebe, stelle ich mir die Frage: Was ist die ideale Gesellschaft? Sicher nicht der Kommunismus, unter dem ich sehr zu leiden hatte. Dort hat man versucht, den Einzelnen zu zerdrücken. Auf der anderen Seite haben wir den Kapitalismus, der egoistische kleine Könige hervorbringt, die alle Verbindungen zu anderen gekappt haben und nur noch traurig für sich selbst in ihrem Turm zu Babel leben. Deshalb gibt es die Metapher am Ende des Films, die eine ideale Gesellschaft nach Art des Kibbuz propagiert. Um ein großartiges Konzert zu geben, müssen die Orchestermitglieder mit sehr unterschiedlichen Instrumenten ausgestattet sein, die zur Persönlichkeit jedes Einzelnen passen. Und: Der Solist an der Geige ist nichts ohne das Orchester, aber das Orchester ist auch nichts ohne den Solisten. Beides und beide bedingen einander.

»Zug des Lebens« war ein Film über die Schoa, »Geh und lebe« handelte von der Suche nach jüdischer Identität. Wie ordnen Sie »Das Konzert« ein?
Es geht darin um meine beiden Hälften. Ich habe ja mehrere Seiten – die jüdische lasse ich jetzt einmal beiseite. Es gibt in mir den Barbaren des Ostens, ungebildet, aber voller Energie und mit dieser slawischen Seele. Und dann ist da der zivilisierte Westler, der ich geworden bin. Etwas wohlhabend, höflich, aber auch ein wenig träge. Glücklicherweise weckt der Barbar den eingeschlafenen Westler gelegentlich, und glücklicherweise sagt der Zivilisierte manchmal zum Barbaren: Das, mein Freund, kannst du nun wirklich nicht machen. Dennoch versuche ich, so oft es geht, überschwänglich zu bleiben, diese vitale Energie zu feiern. Die fehlt im Westen. Auch davon handelt der Film.

Was meinen Sie genau?
Der Mensch ist nicht mehr in der Lage, sich den Herausforderungen der modernen Welt zu stellen. Alles, was er anfasst, vermasselt er: die Politik, die Wirtschaft, die Ökologie, die menschlichen Beziehungen. Alles vergeigt er. Deshalb ist er heute im Zustand der Depression. Ich habe darüber in einer Philosophiezeitschrift einen Aufsatz geschrieben und analysiert, dass wir uns nicht nur in einer Wirtschaftskrise befinden. Es ist eine Vertrauens- und Selbstbewusstseinskrise des Menschen. Mein Film spricht auf sehr leichte, lockere Art auch von dieser Krise.
Die weibliche Hauptrolle haben Sie mit Mélanie Laurent besetzt, die auch in »Inglourious Basterds« gespielt hat.
Den Tarantino-Film hat sie erst nach »Das Konzert« gedreht und nur, weil Harvey Weinstein – der Produzent der »Basterds« , der auch meinen Film gekauft hat – sie von dort kannte. Ich hatte ein Foto von Mélanie aus dem Film »Keine Sorge mir geht’s gut« gesehen. Ich dachte: So müsste die Geigerin aussehen. Blond, blaue Augen, Französin und in diesem Alter. Aber erst bot ich die Rolle einer sehr prominenten Schauspielerin an, die jedoch wegen der vielen Szenen, in denen sie hätte Geige spielen müssen, ablehnte. Dann fiel mir Mélanie wieder ein, die damals nicht sehr bekannt war. Tarantino war dann schneller fertig, hatte diesen Riesenerfolg in Cannes, und Mélanie wurde zum Star. Wir haben davon profitiert.

In Frankreich war »Das Konzert« mit über zwei Millionen Zuschauern ein Kassenschlager. Auch in Israel war er zu sehen.
Dort hatte ich zum ersten Mal mit einem meiner Filme Erfolg, obwohl es vielleicht der am wenigsten jüdische ist. Aber es gab gute Voraussetzungen, weil über eine Million aus der Ex-UdSSR stammende Juden dort leben. Auch die französische und rumänische Community war auf den Film neugierig.

Jetzt läuft »Das Konzert« in Deutschland an. Zwischen dem hiesigen Publikum und Ihren Filmen gibt es seit »Zug des Lebens« eine Art Liebesgeschichte.
Ja, ich war 2000 mit meinem Vater zusammen in vielen Städten. Zu 90 Prozent hat er die PR-Arbeit gemacht. Dabei geschah etwas Geheimnisvolles und Unglaubliches. Es entwickelte sich eine große Zuneigung zwischen einem Juden, den man deportiert hatte, und einem deutschen Publikum. Das war zauberhaft. Jedes Mal, wenn ich nach Deutschland komme, spricht man mich immer noch auf »Zug des Lebens« an.

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