Talmudisches

Das Schicksal der Berurja

Rabbi Meir und seine Frau Berurja mussten nach Babylonien fliehen. Foto: Getty Images

Rabbi Meir, einer der führenden Tannaiten der dritten Generation, und seine gelehrte Ehefrau Berurja lebten in einer Zeit grausamer Verfolgung. Die Römer unterdrückten die toratreuen Juden im Land Israel mit brutaler Härte. Berurjas Vater, Rabbi Chanina ben Teradjon, wurde im Jahr 135 auf furchtbare Weise hingerichtet: Man wickelte ihn in eine Torarolle und verbrannte ihn – eine Strafe dafür, dass er trotz des Verbots öffentliche Lehrveranstaltungen abhielt (Avoda Zara 18a). Auch Rabbi Akiva, der berühmte Lehrer von Rabbi Meir, fand wegen seiner Lehrtätigkeit ein qualvolles Ende (Berachot 61b).

Der Talmud (Avoda Zara 18b) berichtet, Rabbi Meir habe schließlich nach Babylonien fliehen müssen. Doch was zwang ihn zu dieser Flucht? Die Gemara nennt zwei Gründe. Zum einen sei es Rabbi Meir gelungen, Berurjas Schwester aus einem Bordell zu befreien, wohin die Römer sie in Sippenhaft gebracht hatten. Als diese Befreiungsaktion bekannt wurde und man ihn steckbrieflich suchte, blieb ihm nur die Flucht nach Babylonien.

Raschi (1040–1105) erzählt eine befremdliche Geschichte

Der zweite Grund wird im Talmud nur knapp angedeutet – »wegen des Ereignisses mit Berurja«. Was aber verbirgt sich hinter dieser rätselhaften Bemerkung? Hier sind wir auf die Auslegung der Kommentatoren angewiesen. Raschi (1040–1105) erzählt eine befremdliche Geschichte: Berurja habe sich einst über die Aussage eines Weisen lustig gemacht, Frauen seien »leichtsinnig« (Kidduschin 80b). Daraufhin habe ihr Mann gesagt: »Am Ende wirst du zugeben, dass der Weise recht hatte« – und einen seiner Schüler beauftragt, sie zu einer Sünde zu verführen. Nach Raschis Darstellung bedrängte der Schüler Berurja so lange, bis sie schließlich nachgab. Als sie erkannte, was geschehen war, nahm sie sich das Leben. Rabbi Meir, von Scham überwältigt, sei daraufhin geflohen.

Kann das wahr sein? Soll Rabbi Meir tatsächlich einen seiner Schüler beauftragt haben, seine Frau zu Fall zu bringen – und damit das Toragebot »Vor einem Blinden lege kein Strauchelwerk« (3. Buch Mose 19,14) verletzt haben? Und wäre es denkbar, dass eine so fromme Frau wie Berurja Ehebruch beging und sich anschließend das Leben nahm?
Diese Zweifel führten manche Gelehrte zu der Vermutung, Raschi habe die Geschichte gar nicht selbst geschrieben – sie sei erst später seinem Kommentar hinzugefügt worden. Andere halten diese These jedoch für zu gewagt.

Der israelische Historiker Avraham Grossman weist darauf hin, dass es neben Raschis problematischer Deutung noch eine andere Überlieferung gibt. Rabbi Nissim ben Jakob aus Kairouan, ein nordafrikanischer Gelehrter des 11. Jahrhunderts, berichtet, Berurja sei gemeinsam mit ihrem Mann nach Babylonien geflohen. Raschi, der Rabbi Nissims auf Arabisch verfasstes Werk vermutlich nicht kannte, konnte diese Quelle nicht berücksichtigen. Doch wenn das Ehepaar tatsächlich zusammen geflohen ist, kann die Erzählung vom Selbstmord nicht stimmen.

Allerdings erklärt auch Rabbi Nissim nicht, was genau mit dem »Ereignis mit Berurja« gemeint war. Grossman verweist hierzu auf den Midrasch Hagadol und andere Quellen: Danach hätten die Römer versucht, Berurja dazu zu bewegen, die Schabbatgebote zu übertreten. Für die Tochter des Märtyrers Rabbi Chanina ben Teradjon kam ein solcher Verrat an der Tora nicht infrage – also floh sie gemeinsam mit Rabbi Meir aus dem Land.

Am Ende bleibt festzuhalten: Über das Schicksal von Rabbi Meirs Frau existieren verschiedene Überlieferungen. Raschis dramatische Erzählung vom Selbstmord ist nur eine von mehreren Deutungen – und nicht die überzeugendste. Nach der alternativen Tradition erscheint Berurja als eine standhafte, toratreue Frau, die in einer Zeit der Verfolgung ihrem Glauben treu blieb. Kein Wunder also, dass bis heute Schulen für jüdische Mädchen ihren Namen tragen.

Neuerscheinung

Albert Speer als Meister der Inszenierung

Wer war Albert Speer wirklich? Der französische Autor Jean-Noël Orengo entlarvt den gefeierten Architekten als Meister der Täuschung – und blickt hinter das Image vom »guten Nazi«

von Sibylle Peine  10.12.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  09.12.2025

Zahl der Woche

2 Jahre

Fun Facts und Wissenswertes

 09.12.2025

Sehen!

»Golden Girls«

Die visionäre Serie rückte schon in den jugendwahnhaftigen 80er-Jahren ältere, selbstbestimmt männerlos lebende Frauen in den Fokus

von Katharina Cichosch  09.12.2025

Film

Woody Allen glaubt nicht an sein Kino-Comeback

Woody Allen hält ein Leinwand-Comeback mit 90 für unwahrscheinlich. Nur ein wirklich passendes und interessantes Rollenangebot könnte ihn zurück vor die Kamera locken.

 09.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Von Kaffee-Helden, Underdogs und Magenproblemen

von Margalit Edelstein  08.12.2025

Eurovision Song Contest

»Ihr wollt nicht mehr, dass wir mit Euch singen?«

Dana International, die Siegerin von 1998, über den angekündigten Boykott mehrerer Länder wegen der Teilnahme Israels

 08.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  08.12.2025

Vortrag

Über die antizionistische Dominanz in der Nahostforschung

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat im Rahmen der Herbstakademie des Tikvah-Instituts über die Situation der Universitäten nach dem 7. Oktober 2023 referiert. Eine Dokumentation seines Vortrags

 07.12.2025