Wien

Darf man das zeigen?

An einem frühlingshaften Sonntag gegen 12.30 Uhr war eine Menschenschlange vor der Kasse des Jüdischen Museums Wien zu beobachten. Drinnen standen die Besucher dicht gedrängt vor den Objekten.

Es ist daher an der Zeit, Danke zu sagen, nämlich jener kleinen Gruppe von älteren Damen und Herren aus der jüdischen Gemeinde, die derzeit neugierig gewordene und aufgescheuchte Menschen in die Ausstellung 100 Missverständnisse über und unter Juden locken.

gehässigkeit Sie schaffte das mit einem Kommentar in einer österreichischen Tageszeitung, drei bis vier Leserbriefen und recht vielen unsachlichen, anmaßenden und gehässigen Postings, vor allem auf Facebook. Was ist passiert, dass solche heftigen Emotionen, gepaart mit beleidigender Gehässigkeit, in Teilen der jüdischen Gemeinschaft aufbrechen?

Es ist die erste Ausstellung der seit Juli 2022 tätigen Direktorin Barbara Staudinger. Die Wiener Historikerin, die zuletzt das Jüdische Museum in Augsburg erfolgreich leitete, hat mit ihrem gesamten Kuratoren-Team ein starkes Zeichen der Neu-Positionierung setzen wollen – und das ist in mehrfacher Weise auch gelungen. Denn das Konzept fragt in insgesamt sieben Kapiteln nach Missverständnissen über Juden in der

Mehrheitsgesellschaft und ebensolchen unter der jüdischen Minderheit, darunter nach Romantisierung, Stereotypisierungen, Überschreitungen, Voyeurismus, Aneignung – und immer wieder nach dem Umgang mit der Schoa heute und dem Stellenwert des Staates Israel. Absichtlich, bereit für einen diskursiven Gedankenaustausch, bleibt dabei in der gesamten Schau die Antwort auf eine Frage offen: »Wer hat die Deutungshoheit über die jüdische Geschichte, über richtig oder falsch beim Erinnern an die Schoa und im Verhältnis zu Israel?«

Romantisierung Dazu zwei Beispiele von Romantisierung des Judentums aus jüdischer Perspektive: Man bildet sich ein, die typisch »jiddische Mamme«, also die fürsorgende und ewig besorgte Mutter, existiere ausschließlich in der »immer heilen jüdischen Familie«.

Andere wiederum blicken krampfhaft nostalgisch auf die Welt des osteuropäischen Judentums, des legendären Schtetls, wie es hier unter anderem auf dem von Isidor Kaufmann 1910 gemalten Porträt gezeigt wird: ein gepflegter, schöner junger Mann, bedeckt mit einem Tallit und versunken im Gebet. Sowohl die bittere Armut, die an vielen Orten herrschte, als auch antisemitische Pogrome werden derart ausgeblendet bis verdrängt. Aber offenbar möchten manche Juden ihre Vorfahren nur so sehen und dieses unrealistische, schönfärbende Bild auch der Außenwelt aufoktroyieren.

Das Jüdische Museum Wien hat sich für einen mutigen Weg entschieden.

Die gleiche philosemitische und damit positiv romantisierende Vorstellung gibt es auf der nichtjüdischen Seite: Das Ostjudentum wird nicht selten in der Figur der Yentl aus dem gleichnamigen Hollywoodfilm gesehen. Da singt sich Barbra Streisand als als Mann verkleidete Yentl mit teils kitschigen Liedern nicht nur in die Herzen des Publikums, sondern sie nimmt das Ostjudentum gleich mit in die Welt der vorherrschenden Klischees.

vorurteile In dieselbe Kategorie gehören die angeblich freundlich konnotierten Aussagen, dass osteuropäische Juden besonders gelehrt und fromm oder dass alle Juden kluge Denker oder Nobelpreisträger seien. So rückt die Ausstellung auch philosemitische Vorurteile in den Fokus, die im Gegensatz zum Antisemitismus bisher kaum beachtet wurden.

Die 100 Beispiele an Missverständnissen sind Kunstobjekte, die einerseits schon in zahlreichen Museen weltweit ausgestellt waren und fast ausschließlich von international anerkannten Künstlern gestaltet wurden, im Bestreben, mit ihrer eigenen jüdischen Identität klarzukommen. Dabei greifen sie manchmal sowohl künstlerisch überhöht, etwas gewagt oder sarkastisch-witzig in ihre Ausdruckskiste – und das nennt man Kunst.

»Über die aktuelle Ausstellung wird breit diskutiert. Grundsätzlich ist dies zu begrüßen, sollen doch Kunst und Kultur zu Diskussionen, die durchaus auch kontrovers geführt werden können, anregen. Was die Ausstellung jedoch nicht will, ist, neue Missverständnisse zu produzieren, wie dies leider geschehen ist«, so reagiert die Führung des Jüdischen Museums in einem Statement auf die medialen und persönlichen Vorwürfe.

Weiter heißt es dort: »Neben Klischees wird in der Ausstellung auch die Erinnerung an die Schoa angesprochen. Einige Kunstwerke sind sicherlich herausfordernd und, wie wir feststellen mussten, für manche verstörend und verletzend. Daher hat sich das Museum entschlossen, weitere erklärende Texte anzubringen, um die Intentionen dieser Werke noch klarer zu machen, denn keine Schau will Besucherinnen und Besucherverletzen.«

geschmacklosigkeit Wie ernst seitens der Museumsleitung auf Kritik reagiert wird, sieht man an dem Beispiel des 2010 produzierten und auf YouTube veröffentlichen Videos der australischen Künstlerin Jane Korman. Darin tanzen sie, ihr 89-jähriger Vater, der Schoa-Überlebende Adolek Kohn, und seine Enkelkinder im ehemaligen NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu dem Disco-Hit »I will survive«.

Diese Botschaft wird zumeist so aufgenommen, wie sie auch von der Künstlerin intendiert ist, nämlich Adolek Kohn ist dem sicheren Tod entronnen, er darf sich freuen und tanzen. Aber das Museums-Team fügte diesem kurzen Film schwarz aufgemalte Tanzschritte vor der Video-Wand hinzu, und das sollte Zuschauer zum Mittanzen anregen. Das war eine gedankenlose Geschmacklosigkeit, denn die heutigen Besucher dürfen keinesfalls, was ein Schoa-Überlebender sehr wohl darf.

Ziemlich absurd ist es, dem Ausstellungsteam Israelfeindlichkeit zu unterstellen.

Als Reaktion auf die berechtigte Empörung in diesem konkreten Fall wurden diese Markierungen umgehend entfernt. Ziemlich absurd ist es hingegen, dem Ausstellungsteam Israelfeindlichkeit zu unterstellen und damit zu begründen, dass der Text neben einem Foto einer israelischen Soldatin lautet: »… eine ist schöner als die andere!«, oder dass es bei einem entspannten Gruppenbild von Zahal-Soldaten heißt: »Israelische Soldaten sind besonders tapfer.« Die Ironie der Überhöhung verstehen nicht alle, daher wird empfohlen, eine Portion Humor in die Ausstellung mitzunehmen.

antisemitismus Während die Mehrheit der nichtjüdischen Besucher vom 30. November 2022 an durchaus interessiert und offen auf den anspruchsvollen Zugang des neuen Teams reagierte und sich positiv in den sozialen Medien austauschte, wollten manche jüdischen Stimmen darin die Beförderung von Antisemitismus bestätigt sehen: »Ist ja klar, dass es den Nichtjuden gefällt, wenn wir lächerlich gemacht werden.«

Hat die studierte Judaistin Staudinger, die bereits in zahlreichen jüdischen Museen Ausstellungen kuratierte und zuletzt dem Team zur Neugestaltung des österreichischen Gedenkortes in Auschwitz angehörte, mit diesen scharfen Attacken von einer kleinen Gruppe gerechnet?

»Ich habe damit gerechnet, dass diese Ausstellung diskutiert wird, durchaus auch kontrovers«, meinte sie in einem Interview mit der Tageszeitung »Der Standard«. »Sie war als Zeichen einer Institution gedacht, die sich öffnen will, die den Diskurs sucht, zulässt und fördert, die politischer werden will. Es geht darum, Themen zu verhandeln, die schon lange hätten verhandelt werden müssen.«

Aktion Manch gut informierter Beobachter der Wiener Szene sieht eine konzertierte Aktion gegen die nichtjüdische Direktorin. Es soll sich um den Fanklub der Vorgängerin handeln, der nicht hinnehmen will, dass der Vertrag von Danielle Spera nicht verlängert wurde. Sie leitete in den vergangenen zwölf Jahren das Jüdische Museum der Stadt Wien mit großem Erfolg: Die Besucherzahlen schnellten in die Höhe.

Der studierten Publizistin, die zuvor eine beliebte Nachrichtenmoderatorin im Österreichischen Rundfunk war, gelang es, den nichtjüdischen Besuchern und Besucherinnen die Schwellenangst vor einem »jüdischen« Museum zu nehmen – das war auch Teil ihrer Stellenbeschreibung.

Für Deutschland mag das seltsam klingen, wir schrieben immerhin schon das Jahr 2010, aber für Österreich war das bitter nötig. Teile der jüdischen Gemeinde sahen sich in den Ausstellungen an zwei zentralen Orten der Stadt passend und angemessen repräsentiert. Die Wissenschafts-Community war hingegen anderer Ansicht: Das Jüdische Museum sei eine von der Stadt Wien initiierte und finanzierte Institution und biete daher zu wenig Gegenwärtiges: Es stelle weder aktuelle Fragen der Zeit noch solche an die Zukunft. Es würden zumeist nostalgische oder an die dunkle Vergangenheit erinnernde und gemahnende Fragen thematisiert.

Es gehe darum, Themen zu verhandeln, meint Barbara Staudinger.

So hörte man öfters, dass das ehemalige Palais Eskeles in der Wiener Dorotheergasse ein »Wohlfühl-Palais« sei, und das vornehmlich für jüdische Menschen. Denn es gab Ausstellungen zu berühmten Familien wie den Rothschilds oder Ephrussis, Dokumentationen von Flucht- und Überlebensgeschichten.

porträts Man widmete sich Porträts von Simon Wiesenthal, Helena Rubinstein, Hedy Lamarr, Amy Winehouse, Leonard Bernstein, Teddy Kollek sowie der aus Wien emigrierten Sekretärin von Elvis Presley. Eine beeindruckende Schau bedauerte auch die Vernichtung der mondänen, jüdischen Kaufhäuser – weit weniger präsent waren die armseligen Lebensverhältnisse der jüdischen Schuster und Schneider in Wien vor 1938.

Das neue Museum hat sich für einen mutigeren Weg entschieden: Ungeachtet einiger bereits korrigierter Anfangsfehler und manch überflüssiger Übertreibung wurde diese Ausstellung mit profundem Wissen, Humor, Empathie, politischer und künstlerischer Bildung erstellt, auch im Bewusstsein der großen Verantwortung. Und sie entspricht jenem intellektuellen Anspruch, den gar nicht wenige offene Köpfe und Herzen gerade an ein Jüdisches Museum der Stadt Wien stellen.

Barbara Staudinger lässt sich nicht entmutigen und resümiert: »Das Schöne ist, dass das Jüdische Museum Wien vielen Menschen sehr am Herzen liegt. Jetzt kommt jemand Neues, und da gibt es viele Reaktionen, von Umarmung bis zu Wegstoßen. Ich hätte die sachliche Debatte bei dieser Ausstellung bevorzugt.«

Die Ausstellung »100 Missverständnisse über und unter Juden« ist noch bis 4. Juni im Jüdischen Museum Wien zu sehen.

Alexander Estis

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