Rezension

Chronik des Verfalls

Foto: Rowohlt

Rezension

Chronik des Verfalls

Imre Kertész’ »Letzte Einkehr«

von Welf Grombacher  09.03.2015 18:36 Uhr

»Schriftsteller pflegen sich vor dem Tod in ihre Autobiografien zu verwickeln, wenn die dichterische Ader schon so dünn geworden ist, dass sich zwischen den verkalkten Wänden kaum noch eine Metapher herauspumpen lässt.« So schreibt der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész selbstkritisch in seinem neuen Buch Letzte Einkehr, das den gleichen Titel trägt wie seine 2013 erschienenen Tagebücher der Jahre 2001 bis 2009.

Kertész ist 85 und seit Langem an Parkinson erkrankt. Der neue Band ist ein Kondensat, in dem er sein Diarium um gut 100 Seiten gekürzt und verdichtet hat. Es gibt kein Datum mehr am Anfang der Notate. Passagen wurden gestrichen, andere aufgenommen, die in der Erstausgabe nicht vorhanden waren.

Romanfragment Seinem ursprünglichen Ziel, einen letzten Roman daraus zu machen, in dem er die »Chronik des Verfalls« erzählt, ist Kertész so ein gutes Stück nähergekommen. Das wird deutlich, wenn man den Text mit dem 40-seitigen Romanfragment vergleicht, das bereits in der vor zwei Jahren publizierten Ausgabe enthalten war.

Darüber hinaus hat Kertész ein zweites Fragment angehängt. Ein alter Schriftsteller namens Sonderberg reflektiert darin über sein Leben und über sein letztes Buch. Es soll von der biblischen Geschichte des Lot handeln, dessen Leben unschwer Parallelen zu dem von Kertész aufweist: »ein namenloser moderner Heimatloser, zermürbt und zerfressen von einer zeitgenössischen Diktatur«.

tagebücher Gerade mal zwölf Seiten lang ist der Romananfang. Wer die Tagebücher kennt, muss also nicht unbedingt zur neuen Ausgabe greifen. Es sei denn, er ist Literaturwissenschaftler oder Fan. Wer sie aber nicht kennt, dem sei dieses gnadenlose Buch empfohlen.

»Die Geschichte meines Sterbens« nennt Kertész seinen Tagebuchroman. Ehrlich, ja erbarmungslos, zieht er darin Bilanz. »Jeden Tag denke ich an den Tod«, ist da zu lesen und dass der Autor »holocaustmüde« ist. Nur schwer lassen sich Auschwitz und der Nobelpreis in Relation bringen. Am Ende seines Lebens stellt Imre Kertész sich ernüchtert die Frage, ob er der gierigen Öffentlichkeit nicht zu viel von sich überlassen habe? »Nun ist mein Leben eine löchrige Geschichte geworden, eine platte, ausgelutschte Geschichte, ein leeres Schneckenhaus, in dem ich entsetzt kauere.«

Imre Kertész: »Letzte Einkehr«. Roman. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Rowohlt, Berlin 2015, 350 S., 10,99 €

Israel

Pe’er Tasi führt die Song-Jahrescharts an

Zum Jahresende wurde die Liste der meistgespielten Songs 2025 veröffentlicht. Eyal Golan ist wieder der meistgespielte Interpret

 23.12.2025

Israelischer Punk

»Edith Piaf hat allen den Stinkefinger gezeigt«

Yifat Balassiano und Talia Ishai von der israelischen Band »HaZeevot« über Musik und Feminismus

von Katrin Richter  23.12.2025

Los Angeles

Barry Manilow teilt Lungenkrebs-Diagnose

Nach wochenlanger Bronchitis finden Ärzte einen »krebsartigen Fleck« in seiner Lunge, erzählt der jüdische Sänger, Pianist, Komponist und Produzent

 23.12.2025

Hollywood

Ist Timothée Chalamet der neue Leonardo DiCaprio?

Er gilt aktuell als einer der gefragtesten Schauspieler. Seine Karriere weckt Erinnerungen an den Durchbruch des berühmten Hollywood-Stars - der ihm einen wegweisenden Rat mitgab

von Sabrina Szameitat  22.12.2025

Didaktik

Etwas weniger einseitig

Das Israel-Bild in deutschen Schulbüchern hat sich seit 2015 leicht verbessert. Doch der 7. Oktober bringt neue Herausforderungen

von Geneviève Hesse  22.12.2025

Meinung

Der Missbrauch von Anne Frank und die Liebe zu toten Juden

In einem Potsdamer Museum stellt der Maler Costantino Ciervo das jüdische Mädchen mit einer Kufiya dar. So wird aus einem Schoa-Opfer eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels

von Daniel Neumann  21.12.2025

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Nach zwölf Jahren kommt nun die Fortsetzung des Weltbestsellers ins Kino

von Peter Claus  21.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  21.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

Werteinitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 21.12.2025