Filmfestival

Buhlen um die Löwen

Das Filmfest in Venedig, das als einziges der großen Festivals trotz Corona durchweg in Präsenz stattfinden konnte, zelebriert bei dieser 79. Auflage die Normalität. Masken werden in den bis auf den letzten Platz belegten Kinos empfohlen, sind aber keine Pflicht. Und am roten Teppich herrscht, je nach Film, absoluter Ausnahmezustand. Das wundert nicht bei dem vor großen Namen wimmelnden Programm und dem eigenen Anspruch, wieder ein Oscar-Sprungbrett zu sein. Im Hauptwettbewerb, in dem 23 Filme um die Löwen buhlen, sind in diesem Jahr viele jüdische Filmemacher und Schauspieler zu finden.

FAN-HYSTERIE Unerreicht in Sachen Menschenmassen und Fan-Hysterie wird wohl der Auftritt von Timothée Chalamet bleiben. Der Sohn einer New Yorkerin mit halb russischen, halb österreichisch-jüdischen Wurzeln war auf den Lido gekommen zur Weltpremiere von Bones and All, dem neuen Film von Luca Guadagnino. Tausende von Menschen, junge wie alte, warteten zur Weltpremiere am roten Teppich, um einen Blick auf ihr Idol zu erhaschen. Die ganz Hartgesottenen hatten sich bereits morgens früh um 7.30 Uhr vor der Absperrung eingerichtet.

Chalamet spielt in Guadagninos kannibalischem Coming-of-Age-Film einnehmend den lässigen Drifter Lee, der die schüchterne Maren (großartig: Taylor Russell) durch die Staaten auf der Suche nach ihrer Mutter begleitet. Die beiden schweißt eine Lust auf Menschenfleisch zusammen.

ROADTRIP Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Camille DeAngelis, ist Bones and All eine Geschichte über gesellschaftliche Außenseiter im Reagan-Amerika der 80er-Jahre, ein queer angehauchter, bonnie-und-clydesker Roadtrip mit einer jungen Liebe »to the bones and all« – buchstäblich. Zwischen großen Emotionen und Schockmomenten jongliert Guadagnino mit Motiven des amerikanischen Kinos und findet einen ganz eigenen Rhythmus voll flirrender Bilder.

Die Filme von Noah Baumbach und Darren Aronofsky stießen auf ein geteiltes Echo.

Heiß erwartet wurden auch die Filme von Noah Baumbach und Darren Aronof­sky. Baumbachs Netflixproduktion White Noise, die Verfilmung des als unverfilmbar geltenden gleichnamigen Romans von Don DeLillo, eröffnete das Festival. Der mit Adam Driver und Baumbachs Partnerin Greta Gerwig prominent besetzte Film wurde auf dem Lido geteilt aufgenommen.

Richtiggehend enttäuschend war Aronofskys auf dem gleichnamigen Theaterstück von Samuel D. Hunter basierendes, hoch gehandeltes Drama The Whale. Der Film erzählt von dem schwer adipösen, an seine Wohnung gefesselten Englischlehrer (Brandon Frasier), der sich mit seiner 17-jährigen Tochter (Sadie Sink) versöhnen möchte.

So gut das von Frasier, Sink und der wunderbaren Hong Chau als Krankenpflegerin gespielt sein mag, überzeugend ist der Film nicht. The Whale kann sich nicht von der Theaterbühne emanzipieren, findet keine filmische Sprache außer einem für Aronofsky nicht untypischen Hang zum Dramatisieren, der den Ereignissen in der Wohnung nicht wirklich zuträglich ist. Was die Choreografie eines körperlichen Stillstands sein möchte, ist leider kinematografisch einfallslos.

HAMSTERRAD Ebenfalls uninspiriert war Un Couple von Frederick Wiseman. Die Brandung tobt, der Wind fegt durch einen pittoresken Garten, darin: Nathalie Boutefeu als Leo Tolstois Frau Sophie, die aus den Tagebüchern des Paars rezitiert. Der Film ist ein einziger Monolog der Frau im Beziehungshamsterrad, in dem auch das Verhältnis von Kunst und Realität thematisiert wird.

Rebecca Zlotowski entwirft das
Porträt einer 40-jährigen Lebefrau.

Dagegen lohnt es sich bei dieser Mostra, auf die nicht ganz großen Namen zu schauen, auf Rebecca Zlotowski etwa. Die französische Regisseurin jüdisch-polnischer Herkunft entwirft in Les enfants des autres das Porträt einer rund 40-jährigen, glücklichen Lebefrau, die sich in einen Mann mit Tochter verliebt und einen verspäteten Kinderwunsch entwickelt. Auf der Seite zum Film erklärt die Regisseurin, ihr sei es darum gegangen, einer Frauen­figur eine Bühne zu geben, die, wenn überhaupt, im Kino eher in Nebenrollen zu sehen sei.

Zlotowski versteht es dabei, fluide zwischen großer Leichtigkeit und tiefster Traurigkeit zu lavieren. Getragen wird der Film von der nuancenreich aufspielenden Virginie Efira, die sich mit ihrer Rolle der Rachel um den Darstellerinnenpreis bewirbt. Die Preise werden an diesem Samstag verliehen.

KIEWER PROZESS Auszeichnungen wird der ukrainische Regisseur Sergej Loznitsa nicht gewinnen können, da sein Film The Kiev Trial außer Konkurrenz läuft. Leider, muss man ergänzen, denn seine historische Rekonstruktion des Kiewer Prozesses aus dem Jahr 1946, eines der ersten Nachkriegsprozesse gegen deutsche Nazis und ihre Kollaborateure, ist brandaktuell. Unter dem Fall Nr. 1679 »Über die von faschistischen Invasoren auf dem Territorium der Ukrainischen SSR begangenen Gräueltaten« waren 15 Verbrecher angeklagt, die ganze Dörfer ausgerottet haben.

Loznitsa montiert in der dokumentarischen Aufarbeitung Schlüsselmomente des Gerichtsprozesses aus dem Archiv unkommentiert zusammen, darunter Aussagen der Angeklagten und von Überlebenden von Auschwitz und Babyn Jar. In erschlagender Konsequenz reihen sich Aussagen der Opfer und Zeugen aneinander: ein in der zähen Ausführlichkeit erschreckender Film. Wenn der Ankläger in seinem Plädoyer von einer zukünftig freien Ukraine spricht, möchte man losheulen.

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