Kino

Blick auf die Denkerin

Die Philosophin Hannah Arendt starb am 4. Dezember 1975 an einem Herzinfarkt. Foto: IMAGO/Bridgeman Images

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Blick auf die Denkerin

50 Jahre nach Hannah Arendts Tod beleuchtet eine Doku das Leben der Philosophin

von Jens Balkenborg  18.09.2025 10:20 Uhr

Auch ohne alle ihre Überzeugungen zu teilen, kann man gar nicht anders, als an ihren Lippen zu kleben. Wie sie da sitzt, in dem klobigen Sessel, mit den wachen Augen hinter der dickrandigen Brille, immer eine Zigarette in der Hand oder im Aschenbecher neben sich, und in druckreifen Sätzen spricht: über Philosophie, ihr Selbstbild als politische Theoretiker-in und Frau, ihre jüdische Kindheit, den Holocaust, die Emigration in die USA, ihr Schreiben und ihre Schriften.

1964 war Hannah Arendt, bis heute eine der einflussreichsten und wichtigsten politischen Theoretikerinnen und Publizistinnen des 20. Jahrhunderts, zu Gast in der Sendung Zur Person. Als erste Frau nach 16 prominenten, meist politischen Vertretern stand sie Günter Gaus Rede und Antwort. »Männer wollen immer furchtbar gern wirken«, sagt sie dort einmal mit der ihr eigenen Ironie.

Dass das Regietrio um Jeff Bieber, Chana Gazit und Sabine Krayenbühl in seinem Dokumentarfilm Hannah Arendt – Denken ist gefährlich immer wieder auf das legendäre Interview zurückkommt, erscheint naheliegend. Es bildet so etwas wie eine Rahmenerzählung in dem dokumentarfilmischen Ritt durch Arendts turbulente, von welthistorischen Ereignissen getriebene Biografie.

Der Film kommt wenige Wochen vor dem 50. Todestag der am 4. Dezember 1975 einem Herzinfarkt erlegenen Denkerin in die Kinos.

Ein legendäres TV-Interview mit Günter Gaus von 1964 bildet die Rahmenerzählung.

Dass es in den vergangenen Jahren eine Arendt-Renaissance gab, leuchtet in unserer vom Erstarken einer internationalen Rechten und eines neuen Totalitarismus sowie der von Polykrisen orchestrierten Gegenwart ein. Kaum jemand hat derart pointiert und gern auch kontrovers zum Verhältnis von Autorität und Freiheit, zum Nationalsozialismus, zu Flucht und (geistiger) Freiheit gesprochen und geschrieben wie die am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geborene und in Königsberg aufgewachsene Hannah Arendt.

Szenen von der Erstürmung des amerikanischen Kapitols aus dem Jahr 2021

Einen Gegenwartsbezug stellen auch Bieber, Gazit und Krayenbühl gleich zu Beginn ihres Films her. Dort folgen auf eine historische Bildercollage Szenen von der Erstürmung des amerikanischen Kapitols aus dem Jahr 2021, begleitet von Sätzen Arendts, die aktueller nicht sein könnten: »Noch nie war unsere Zukunft unberechenbarer. Noch nie waren wir so sehr von politischen Kräften abhängig, bei denen man nicht darauf vertrauen kann, dass sie den Regeln der Vernunft folgen. Kräfte, die wie blanker Wahnsinn anmuten, wenn man sie nach den Maßstäben früherer Zeiten beurteilt.«

In seinen kaum 90 Minuten Spielzeit liefert Hannah Arendt – Denken ist gefährlich einen biografischen Abriss im Schnelldurchlauf. Zu einer Montage von vor allem Archivaufnahmen sind Erzählungen und Briefzitate von verschiedenen Freundinnen und Freunden zu hören. Zentral sind auch Originalzitate aus Arendts Essays, Briefen, Gedichten und weiteren Aufzeichnungen, die im Film von der Schauspielerin Nina Hoss gesprochen werden.

Wir erfahren, dass die Philosophin als Kind, bis es zu ersten antisemitischen Erfahrungen kam, nichts von ihrer jüdischen Identität wusste, weil der Vater früh gestorben und die Mutter nicht religiös war.

Dann geht es durch die Jahre: Hannah Arendt, von Immanuel Kant beeinflusst, studiert in Marburg, insbesondere bei Martin Heidegger, mit dem sie auch anbändelt und später neben ihrer Ehe mit Heinrich Blücher Kontakt halten wird. 1933, nach dem Reichstagsbrand, gewährt sie Kommunisten in ihrer Berliner Wohnung Unterschlupf, erstellt eine Sammlung über antisemitische Berichterstattung und wird von der Gestapo verhaftet.

Nach ihrer Freilassung flieht sie nach Paris und hilft als Sekretärin der Baronin von Rothschild vertriebenen jugendlichen Juden, nach Palästina zu gelangen. Sie wird nach der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten im Lager Gurs interniert, aus dem sie fliehen kann und über Spanien 1941 nach Amerika gelangt. 1951 erhält sie die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Originalzitate aus Arendts Essays, Briefen und Gedichten werden von Nina Hoss gesprochen.

Ihr Wirken in den USA strahlt in die Welt hinaus: wie etwa ihr Opus Magnum Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft oder ihre nicht unumstrittene Berichterstattung über den Eichmann-Prozess im Jahr 1961 in Jerusalem für die Zeitschrift »The New Yorker«, aus der ihre Idee zur »Banalität des Bösen« hervorging. Darin beschreibt Arendt, dass der Nazihorror eben nicht das Werk von Teufeln, sondern das von Nachbarn in einem alles korrumpierenden, totalitären System war.

Hannah Arendt – Denken ist gefährlich liefert keine Vertiefung, sondern ist ein sehenswerter Anstoß für weitere Auseinandersetzungen mit dem Leben und dem Werk der Denkerin.

Was in diesem formal nicht besonders inspirierten, konventionell gehaltenen Dokumentarfilm mit Blick auf Arendts Auseinandersetzungen mit Hitler und dem Nationalsozialismus, mit der McCarthy-Ära und der Kommunistenjagd, mit den Täuschungen während des Vietnamkriegs und der Watergate-Affäre durchklingt, ist Arendts ungebrochener Glaube an die Macht des Denkens, an Freiheit und Demokratie.

Sie ist überzeugt davon, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, zu handeln und die Welt zu verändern, und dass Liebe und Freundschaft die vorderste Front gegen den Totalitarismus bilden können – ein wünschenswertes Role Model für unsere Gegenwart.

Ab dem 18. September im Kino

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