Gratulation

»Aus den Tiefen seiner Seele«

Joshua Sobol Foto: Stephan Pramme

Gratulation

»Aus den Tiefen seiner Seele«

1984 spielte Michael Degen in Joshua Sobols Theaterstück »Ghetto«. So erinnert sich Sobol an den Schauspieler

von Joshua Sobol  31.01.2022 14:09 Uhr

In meinen 52 Jahren, in denen ich am Theater gearbeitet habe, habe ich eine alte Wahrheit wiederentdeckt: Wir kennen die Menschen hauptsächlich durch die Rollen, die sie im Leben spielen. Im Theaterleben hat diese Wahrheit eine doppelte Bedeutung.

Ein Schauspieler ist uns in unserer Vorstellung und in unserer Erinnerung durch einen bestimmten Charakter, den er in einem Stück oder einem Film gespielt hat, eingebrannt. Wer war der »wahre« Charlie Chaplin? Wer war der Mann Rudolph Valentino?

Lächeln Zum allerersten Mal traf ich Michael Degen während einer Probe zu meinem Stück »Ghetto« in der Kantine der Freien Volksbühne. Es war Anfang Juli 1984, etwa eine Woche vor der Premiere. Am Abend zuvor war ich aus Israel angereist. Mein erster Besuch in Berlin. Michael Degen empfing mich herzlich mit einem breiten Lächeln und sagte auf Hebräisch mit einer guten Portion Humor: »Ich spiele Deinen Yaakov Gens. Du solltest wissen, dass Peter Zadek das Stück so behandelt, als sei es ein Shakespeare’scher Text. Er gestattet uns nicht, auch nur ein Wort zu ändern.«

Als die Pause vorbei war, ging ich in den Saal, um einen ersten Durchgang des Stücks zu sehen. Und da geschah etwas mit mir, das ich nie vergessen werde. Ich sah Gens, den Chef des Judenrats des Ghettos in Vilnius, vor meinen Augen auf der Bühne lebendig werden. Und zwar so, wie ich mir die Figur beim Schreiben ein Jahr zuvor vorgestellt hatte. Degen verlieh diesem Charakter alle Merkmale und Schattierungen, die ich mir für ihn gewünscht hatte.

Ein Schauspieler kann einer Rolle, die er spielt, nur die Eigenschaften geben, die auch er in seiner Persönlichkeit hat. Er kann einige hervorheben, andere herunterspielen, aber er kann der Rolle eben nicht Züge verleihen, die nicht auch in seiner Persönlichkeit liegen.

Rolle Verkörpert von Michael Degen, stand Yaakov Gens vor meinen Augen als jüdischer Anführer mit ungemeiner mentaler Stärke, der gezwungen war, furchtbare Entscheidungen zu fällen, die Menschen brechen konnten. Degen verlieh Gens‹ Rolle die Fähigkeit, in einer ganzen Gemeinschaft Widerstandsfähigkeit zu wecken. Er befähigte verzweifelte Menschen, all ihre Kräfte zusammenzunehmen, um sich in einem spirituellen Kampf, der sie vor Auslöschung ihres menschlichen Wesens bewahrte, aus der Hoffnungslosigkeit zu befreien.

Er gab der Rolle des Gens menschliche Wärme, Contenance und die Fähigkeit, schnell schwierige Entscheidungen zu treffen. Vor allem aber verlieh er dem Charakter eine Art Selbstbeobachtung und eine starke Intuition, die dazu führte, dass Gens das tragische Ausmaß der Rolle, die er spielte, begriff. Außerdem gab er ihm Klarheit, die ihn davon abhielt, sich Illusionen hinzugeben. Hauptsächlich aber gab Degen der Rolle die Fähigkeit zur Selbstironie und bewahrte sie davor, ihren Humor zu verlieren.

Dadurch schuf Michael Degen eine wesentliche und tiefgründige menschliche Figur. Diese Eigenschaften, die Michael Degen aus den Tiefen seiner Seele und den Schätzen seiner Persönlichkeit hob, wurden in meiner Vorstellung die perfekte Verkörperung der Figur eines jüdischen Anführers, der dann und wann in schicksalhaften Stunden und in schwierigsten Zeiten der jüdischen Geschichte auftauchte.

(Übersetzung: Katrin Richter)

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Esther Abrami

Die Klassik-Influencerin

Das jüngste Album der Französin ist eine Hommage an 14 Komponistinnen – von Hildegard von Bingen bis Miley Cyrus

von Christine Schmitt  16.10.2025

Berlin

Jüdisches Museum zeichnet Amy Gutmann und Daniel Zajfman aus

Die Institution ehrt die frühere US-Botschafterin und den Physiker für Verdienste um Verständigung und Toleranz

 16.10.2025

Nachruf

Vom Hilfsarbeiter zum Bestseller-Autor

Der Tscheche Ivan Klima machte spät Karriere – und half während der sowjetischen Besatzung anderen oppositionellen Schriftstellern

von Kilian Kirchgeßner  16.10.2025

Kulturkolumne

Hoffnung ist das Ding mit Federn

Niemand weiß, was nach dem Ende des Krieges passieren wird. Aber wer hätte zu hoffen gewagt, dass in diesen Zeiten noch ein Tag mit einem Lächeln beginnen kann?

von Sophie Albers Ben Chamo  16.10.2025

Literatur

»Der Krieg liegt hinter uns, und es sieht aus, als ob es dabei bleibt«

Assaf Gavron über die Entwicklungen im Nahen Osten und seinen Besuch als israelischer Schriftsteller bei der Frankfurter Buchmesse

von Ayala Goldmann  16.10.2025

Ariel Magnus

Fabulieren mit Berliner Biss

Der Argentinier und Enkel von deutschen Juden legt einen urkomischen Roman über das Tempelhofer Feld vor

von Alexander Kluy  16.10.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 17. Oktober bis zum 23. Oktober

 16.10.2025

Marko Dinić

Das große Verschwinden

Der serbisch-österreichische Autor füllt eine Leerstelle in der Schoa-Literatur

von Katrin Diehl  13.10.2025