Theater

Auch auf der anderen Seite gibt es Mütter

Ursula Gossenbacher und Christoph Gummert ringen um die rote Linie des Humanismus. Foto: Matthias Jung

Das Publikum betritt das Theaterfoyer und befindet sich unmittelbar vor der kleinen Bühne und bald im Geschehen von Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten. Kurz nach dem 7. Oktober 2023 schrieb die israelische Autorin und Dramaturgin Maya Arad Yasur dieses Theaterstück, das nun unter der Regie von Jula Marie Kühl am Theater Bonn inszeniert wurde.

Auf der Bühne stehen sich spiegelbildlich zwei Seiten gegenüber, beide weiß und unschuldig, getrennt durch ein rotes Seil, das später symbolisch in das Spiel eingebunden wird. Ein junger Mann mit klobigen Stiefeln liegt rechts auf der Pritsche, eine Frau in gemusterter Stoffhose hockt links vor dem Bett. Sie verkörpern zwei Facetten einer Identität, mütterlich und kämpferisch, die bisweilen dialogisch, bisweilen chorisch eine Auseinandersetzung mit sich selbst führt.

Die Einspielungen zweier Gedichte von Jehuda Amichai und Mahmoud Darwish in Iwrit und Arabisch leiten akustisch ein, dann erinnern zwei Prologe an den 7. Oktober: Nachdem Tausende Menschen aus Gaza Kinder, Frauen, Alte, Kranke folterten, vergewaltigten, barbarisch abschlachteten und entführten – wie kann man da Empathie und Mitleid empfinden? Wie kann man humanistisch bleiben? Eine Anleitung in 17 Schritten versucht, eine Antwort zu geben.

Der erste Schritt ist laut Maya Arad Yasur, die Bilder der sozialen Medien auszuschließen. Indem die Täter ihre Grausamkeiten zeitgleich an Freunde und Familien der Opfer sendeten, wurden auch diese zu hilflosen, ohnmächtigen Objekten. Sie zu ignorieren, wird somit Bedingung, um handelndes Subjekt und Mensch bleiben zu können. Es folgt das Diktum der Empathie: Auch auf der anderen Seite gibt es Mütter. Denk daran. Wieder und wieder. Verzweifelt, wütend, entsetzt wird daran festgehalten.

Doch die Spielenden stoßen an die Grenzen des Erlittenen und brechen unter den Erinnerungen zusammen. Eine Audioeinspielung fasst das vergangene Jahr zusammen: Krieg, Hunger, Lebensmittellieferungen, Schüsse, Bomben, Geiseln, Tote. »Vergiss nicht: Auch auf der anderen Seite der Grenze gibt es Mütter.« Höre nicht auf Männer, höre nicht auf Krieger. Die Menschlichkeit scheint in der Hand der Mütter zu liegen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer glimmt im Spiel mit der roten Linie als Springseil auf.

Öffne dich dem Leben, halte dich daran fest

Kinder sollen vor Informationen geschützt werden. Unbeschwertheit und Spaß sollen ihnen erhalten bleiben. Öffne dich dem Leben, halte dich daran fest, halte dich an kleinen menschlichen Geschichten fest, appelliert der Text. Die Spielenden bemühen sich um Leichtigkeit, wehren Störendes ab, kämpfen um Menschlichkeit und die wesentlichen Elemente des Lebens, suchen das Schöne. Hierbei gerät ein Tanz zum Toben, zu Wut und Aggression. Die Figuren verfangen sich in der Grenze, dem Seil, das zur Fessel wird und sie ihrer Handlungsmöglichkeit beraubt.

Dann wird das Stück in ein ungewöhnliches Format überführt. Bevor die Musik verklingt, betritt Dramaturgin Sarah Tzscheppan die Bühne, bei jeder Vorstellung begleitet sie eine andere Person, mit der sie ein rahmendes Gespräch zum Thema des Stückes führt. »Wir wollen bewirken, dass Kultur nicht nur konsumiert wird, sondern zu politischem Handeln führt«, erläutert Kühl. So ist nach jeder Vorstellung individuell zu entscheiden, ob Aussage und Handlungsaufforderung historisch und angemessen und zudem empathisch sind oder ob sich letztlich Schritt 15 bestätigt: »Sprich nicht mit Humanisten aus Europa. Es ist leicht, Humanist zu sein, wenn du auf die Ereignisse aus sicherer Entfernung blickst.«

Das Stück wird am Schauspiel Bonn erneut am 21. Oktober und am 12. November gezeigt.

Berlin

Erste Ausstellung über den Architekten Ossip Klarwein

Präsentiert werden mehr als 100 Entwürfe und Modelle, darunter ikonische Bauten des 1933 nach Palästina geflohenen jüdischen Architekten

 17.06.2025

Nachruf

Chronist einer ganzen Epoche

Michel Bergmann war ein Schriftsteller, der viele Genres beherrschte

von Ellen Presser  17.06.2025

Los Angeles

Neues Album von Haim: »Manchmal muss man loslassen«

Auf ihrem vierten Album singen die Haim-Schwestern von Trennung, Abschied und Neuanfang. Dabei betritt das Trio mit beinahe jedem Song ein anderes musikalisches Terrain

von Philip Dethlefs  17.06.2025

Diskurs

»Die Erinnerungsrepublik Deutschland ist zu Ende«

Auszüge aus der Heidelberger Hochschulrede des Grünen-Politikers Sergey Lagodinsky

 16.06.2025

Literatur

Michel Bergmann ist tot

Der jüdische Schriftsteller starb im Alter von 80 Jahren

 17.06.2025 Aktualisiert

Taormina Film Fest

Michael Douglas entschuldigt sich für Politik der US-Regierung

Der Darsteller erhält von Iris Knobloch eine Ehrung für sein Lebenswerk. Die Vergabezeremonie in Sizilien nutzt er für Kritik an seinem Land

 16.06.2025

Fernsehen

Luftraum in Israel gesperrt: »Fernsehgarten« ohne Kiewel

Die Moderatorin lebt in Tel Aviv - doch zu ihrer Jubiläumssendung konnte sie nicht anreisen

 15.06.2025

Leo Baeck Institut

»Die Wissenschaft ist keine Oase«

Michael Brenner über das vor 70 Jahren gegründete Archiv der Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums, freie Forschung und bedrohte Demokratie

von Ayala Goldmann  15.06.2025

Kunst

Öffnet die Herzen!

Die Israelin Bracha Lichtenberg Ettinger fordert mit einer intensiven Einzelschau in Düsseldorf die Besucher heraus

von Eugen El  15.06.2025