Lyrik

Akt der Desintegration

»Rache ist eine poetische Haltung«: Schriftsteller Max Czollek Foto: Verlagshaus Berlin

Für ihn besteht kein Zweifel, dass die Vernichtung von Familie, Freunden und Kultur einen gewaltvollen Akt darstelle, der eine tiefe persönliche Verletzung bedeute, die sich wiederum in eigenen Gewaltfantasien äußere: »Gegenüber einer solchen Wunde im familiären Gedächtnis die eigene Würde zu bewahren, gelingt nun gerade nicht durch die Übernahme einer unschuldigen und reinen Opferposition.« Max Czollek versteht seinen Zyklus »A.H.A.S.V.E.R.« deshalb als einen bewussten Akt der Desintegration.

Im vergangenen Jahr erschien der aus neun Gedichten bestehende Zyklus in seinem Band Jubeljahre. Jetzt veröffentlicht Czollek ihn in der Edition Binaer noch einmal – kommentiert durch ein Gespräch, das er im Frühjahr 2015 mit Jo Frank und Micha Brumlik am Maxim-Gorki-Theater geführt hat, und mit einem Essay über »Rache als Topos jüdischer Selbstermächtigung«.

Mythos Wieder ein Künstler, wird jetzt mancher denken, der glaubt, seine eigenen Werke erklären zu müssen. In diesem Fall aber hat dies durchaus Sinn. Ist der Zyklus doch mit theologischen und literarischen Bezügen derart aufgeladen, dass er sich ohne Hilfe nur schwer erschließt.

Auf dem Ahasver-Mythos aufbauend, verkehrt Max Czollek die Vorzeichen. Anders als in den christlichen Volkssagen wird der Unbekannte, der Jesus auf seinem Kreuzweg die Hilfe verweigerte, nicht mit dem Bann des ewigen Wiedergängers belegt. (Erst im späten Mittelalter mutiert dieser Unbekannte übrigens zum Juden.)

»Im Zyklus wird die Figur des Ewigen Juden zu einem Charakter, der zwischen einer biblischen Josef-Figur, Joseph Goebbels und Iosif Stalin changiert«, schreibt Czollek im Begleit-Essay. In einer Zeit, in der die juristische Verantwortung der Täter endet, weil sie bald nicht mehr am Leben sind, setzt der Dichter ganz bewusst zu einer »mythologischen Verdammung« an.

Hölle Der 1987 in Berlin geborene Max Czollek machte sich als Initiator des internationalen Lyrikprojekts »babelsprech« und Mitorganisator der Literaturreihe »Gegenwartsbewältigung« im Gorki-Theater einen Namen. Im Mai veranstaltete er einen »Desintegrationskongress« zur Klärung zeitgenössischer jüdischer Positionen. Als Angehöriger der Dritten Generation lebt er in Versen seine Rachegelüste aus und wünscht den Tätern die nicht endende Hölle.

Mit seinen Versen interveniert Czollek so gegen die Einbindung »der Juden« in einen versöhnlichen Entlastungsdiskurs. »Diese Entkoppelung von einem deutschen Blick bezeichne ich als Desintegration.« Rache ist für ihn dabei nichts Reales mehr, nichts im täglichen Leben Wurzelndes. »Rache ist eine poetische Haltung. Lyrik ist ein Zupfen an den Wundfäden zwischen Gestern und Morgen.«

Max Czollek: »A.H.A.S.V.E.R.«. Verlagshaus Berlin, Berlin 2016, 52 S., 6,99 €

Medien

»Besonders perfide«

Israels Botschafter wirft ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann Aktivismus vor. Die Hintergründe

 18.07.2025

London

Kneecap und Massive Attack wollen andere israelfeindliche Bands unterstützen

Einige der Initiatoren einer neuen Initiative verherrlichten den palästinensischen und libanesischen Terror auf der Bühne. Andere verglichen das Vorgehen Israels gegen die Hamas mit dem Holocaust

von Imanuel Marcus  18.07.2025

Darmstadt

Literaturpreise für Dan Diner und Ilma Rakusa

Diner habe die Geschichte des Judentums immer wieder als »Seismograph der Moderne« verstanden, begründete die Jury die Wahl

 18.07.2025

Nachruf

Nie erschöpfter, unerschöpflicher Herrscher des Theaters

Claus Peymann prägte das Theater im deutschen Sprachraum wie nur wenige andere. Nun ist er in Berlin gestorben. Erinnerungen an einen Giganten der Kulturszene

von Christian Rakow  18.07.2025

Kulturpolitik

Weimer sieht autoritäre Tendenzen im Kulturbetrieb

Attacken auf das weltberühmte Bauhaus und steigende Judenfeindlichkeit: Nach Einschätzung von Kulturstaatsminister Weimer steht der Kulturbetrieb zunehmend unter Druck

von Katrin Gänsler  18.07.2025

Tournee

Bob Dylan auf drei deutschen Bühnen

Das Publikum muss sich bei den Vorstellungen der lebenden Legende auf ein Handyverbot einstellen

 18.07.2025

Marbach

Israelische Soziologin Eva Illouz hält Schillerrede

Illouz widme sich dem Einfluss wirtschaftlichen Denkens und Handelns und greife damit Widersprüche kulturgeschichtlich auf, hieß es

 17.07.2025

Musik

1975: Das Jahr großer Alben jüdischer Musiker

Vor 50 Jahren erschienen zahlreiche tolle Schallplatten. Viele der Interpreten waren Juden. Um welche Aufnahmen geht es?

von Imanuel Marcus  17.07.2025

Interview

»Eine Heldin wider Willen«

Maya Lasker-Wallfisch über den 100. Geburtstag ihrer Mutter Anita Lasker-Wallfisch, die als Cellistin das KZ Auschwitz überlebte, eine schwierige Beziehung und die Zukunft der Erinnerung

von Ayala Goldmann  17.07.2025 Aktualisiert