Zum Tod von Samuel Willenberg

Zeuge, Held und Patriot

Samuel Willenberg (1923–2016) Foto: Agnieszka Hreczuk

Es sei nur noch Gewohnheit, nach so vielen Jahren, scherzte Krysia Willenberg über die Beziehung zu ihrem Mann. Der schaute sie mit seinen blauen Augen an, mit dem Blick eines kleinen Jungen: »Für dich vielleicht, aber ich liebe dich immer noch«, sagte er ganz ernst, obwohl er den Spaß verstand. So habe ich ihn in Erinnerung, Samuel Willenberg, alias Igo, wie ihn seine Frau und viele Freunde nannten. Es war sein zweiter Name, den er während der Schoa benutzt hat.

Er wurde als Held bewundert, galt als »der« Kämpfer. Der Überlebende von Treblinka. Historische Gestalt, aus den Geschichtsbüchern und Filmen – verehrt, bewundert. Das war er auch für mich. Am Anfang. Doch im Laufe der Zeit habe ich ihn vor allem als einen warmherzigen Menschen, einen unverbesserlichen Optimisten und als einen Träumer kennengelernt. Witzig, herzlich, weltoffen.

Orden Vor ein paar Monaten, bei einem Besuch in Polen, sah Samuel in einem Café einen schwarzen Kellner. »Wie schön«, sagte er, »Polen ändert sich.« Er war ein Patriot. Auf Fotos posierte er gern mit einer Baskenmütze mit dem polnischen Adler – eine Erinnerung an den Warschauer Aufstand 1944, in dem er kämpfte. Polens Staatspräsident hat ihn damit ausgezeichnet, darauf war er stolz. Mehrmals im Jahr fuhr er mit seiner Frau nach Polen. Manchmal kam auch seine Tochter mit, später die Enkelkinder. Sie fuhren nach Treblinka, wo er von Herbst 1942 bis Sommer 1943 im Sonderkommando die Sachen der Ermordeten hatte sortieren müssen. Manchmal besuchten sie Orte seiner Kindheit oder machten einfach nur Urlaub in Polen. Ich hoffe, dass er die Atmosphäre, die seit einigen Wochen im Land herrscht, nicht mehr mitbekommen hat. Die Verachtung der Menschen war sein Albtraum.

Ich habe ihn wütend gesehen. Wütend führte er sein Gespräch mit Gott, an den er eigentlich nicht mehr glauben wollte seit Treblinka, erzählte er immer. »Wo warst du? Hier gab es ihn nicht«, sagte er einmal in Treblinka, schüttelte entsetzt seinen Kopf und schwenkte den Gehstock in der Luft. Diesen Gott wollte er nicht verstehen, aber vor allem jene Menschen nicht, die das Lager errichtet hatten.

Deutschland Lange wollte er nichts mit Deutschland zu tun haben. Kein Bosch, kein Siemens, keinen VW. Bis ihm der Nachbar zeigte, dass selbst unter der Haube seines Fords »Made in Germany« stand. Am Ende seines Lebens konnte Samuel darüber lachen. Vor ein paar Jahren reisten er und seine Frau sogar nach Berlin. Dort hat ihre Tochter Orit vor einigen Jahren das Gebäude der israelischen Botschaft entworfen. Sie mochten die Stadt. Aber wenn Samuel Menschen in seinem Alter sah, fragte er sich jedes Mal, wo sie wohl waren, als seine Schwestern vergast wurden. Verzeihen – das wollte er nicht.

Als Held hat er sich selbst nie betrachtet. Und auch nicht als Opfer. Er war Augenzeuge, so verstand er sich. Als einer von immer weniger Überlebenden musste er – in Auftrag der Ermordeten – die Wahrheit weitergeben. Er hat sie nicht schöner gemacht, er verschwieg keine Details der Demütigung. Schlicht, direkt, hart. Ich weiß noch, wie einmal eine Redakteurin seine Worte über die schöne, nackte Jüdin, der er vor der Ermordung in der Gaskammer die Haare abrasieren musste, aus dem Beitrag strich. Es sei respektlos gegenüber dem Opfer. Das verstand Willenberg nicht. »Wenn jemand sich dafür schämen sollte, dann waren es die Täter, nicht die Opfer.« Das schöne, nackte Mädchen, Ruth, wählte er 60 Jahre später für seine erste Bronzeskulptur aus.

Er erzählte, als ob das alles mit seinem Leben nichts zu tun hätte: Wo die Züge ankamen und wie die Leichen auf Scheiterhaufen verbrannt wurden. Kühl und distanziert. »Ich habe ihn erschossen«, sagte er einmal und schaute mir in die Augen. Er erzählte vom Aufstand und der Flucht aus Treblinka. Ein Mithäftling wurde verletzt, konnte nicht mehr laufen. Er wäre gefoltert worden, bat um schnellen Tod. »Ich sagte ihm, er solle dorthin schauen, wo er zuletzt seine Familie sah – und drückte ab.«

Nur einmal habe ich ihn weinen sehen. Als er von den Kleidungsstücken seiner Schwestern Tamara und Ita erzählte, die er auf dem Haufen der Ermordeten in Treblinka fand.

Doch Samuel waren Verbitterung oder Verbissenheit fremd. »Ich habe gesiegt«, sagte er. »Sie wollten mich umbringen, aber ich lebe, habe eine Familie und bin glücklich.« Seine Frau Krysia war seine große Liebe. Man spürte es in der Luft, auch nach 67 Jahren. Eigentlich hieß Krysia Ada. Krysia war, wie Igo, ein Deckname aus der Zeit der Schoa. Doch untereinander nannten sie sich ausgerechnet mit diesen aufgezwungenen Namen.

Sein letzter großer Traum war ein Bildungszentrum in Treblinka, das er mit seiner Tochter entworfen hat. 2013 legte er den Grundstein – und sagte: »Auch wenn es mich nicht mehr geben wird, werden wir nicht vergessen«.

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