Deutschland/Schweiz

»Wissen,was beim Nachbarn passiert«

Zentralratsgeschäftsführer Daniel Botmann (l.) und SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner Foto: Gregor Zielke

Deutschland/Schweiz

»Wissen,was beim Nachbarn passiert«

Daniel Botmann und Jonathan Kreutner über gemeinsame Projekte

von Tobias Kühn  20.07.2015 18:36 Uhr

Herr Botmann und Herr Kreutner, Sie sind Amtskollegen: Der eine leitet die Geschäftsstelle des Zentralrats in Berlin, der andere die des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) in Zürich. Sie engagieren sich beide für eine engere Zusammenarbeit zwischen ihren Dachorganisationen. Was versprechen Sie sich davon?
Botmann: Eine grenzüberschreitende Kooperation im deutschsprachigen Raum kann für beide Seiten nur von Vorteil sein. Wir können voneinander lernen und vor allem Erfahrungen und Know-how austauschen.
Kreutner: Für uns sind der Kontakt und die Kooperation mit dem Zentralrat, als einem wesentlich größeren Dachverband, sehr wertvoll. Ich denke, das ist für uns eine sehr gute Möglichkeit des Erfahrungsaustauschs, der die Chance bietet, Projekte gemeinsam zu gestalten.

Ein aktuelles Beispiel ist das Fortbildungsprogramm »Next Step«. Worum genau geht es dabei?
Kreutner: Es ist ein gemeinsames Leadership-Programm der jüdischen Dachverbände Deutschlands, Österreichs und der Schweiz für junge jüdische Erwachsene. Je zehn Teilnehmer aus diesen Ländern erhalten in Seminaren Leadership-Skills mit auf den Weg. Für uns als Dachverbände ist das sehr interessant, denn dadurch entsteht ein Pool an Leuten, aus dem wir später einmal schöpfen können.
Botmann: Wir wollen junge jüdische Führungskräfte schulen, weil wir damit die jüdische Gemeinschaft insgesamt stärken können – in allen drei Ländern.

Ein weiteres Beispiel für die Zusammenarbeit ist ein Buch über jüdische Ethik, das erst vor wenigen Wochen erschienen ist. Zentralrat und SIG haben es gemeinsam herausgegeben. Warum wurde nicht auch der dritte deutschsprachige jüdische Dachverband mit ins Boot geholt, die Israelitischen Kultusgemeinden in Österreich?
Kreutner: Dass der österreichische Dachverband vor Jahren, als die Idee zur Erstellung des Buches entstanden ist, nicht mit ins Boot genommen wurde, ist bedauerlich, aber hatte keinen tieferen Grund. Umso mehr freue ich mich darüber, dass wir nun mit dem Projekt »Next Step« eine erfolgreiche Drei-Länder-Kooperation auf die Beine stellen konnten.
Botmann: Das Ethikbuch ist sehr gelungen. Und wie ich gehört habe, stößt es auch in Österreich auf großes Interesse. Ich bin davon überzeugt, dass die Österreicher davon profitieren werden, auch wenn keine Autoren aus ihrem Land daran mitgearbeitet haben. Es wird ganz sicher auch dort im jüdischen Religionsunterricht verwendet werden, denn die Herausforderungen für jüdische Religionslehrer in Österreich sind sicherlich ähnlich wie die in Deutschland und der Schweiz.

Welche gemeinsamen Projekte planen Ihre Dachverbände für die Zukunft?
Botmann: Eine Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen ist unser Ziel. Anknüpfend an das gemeinsame Ethiklehrbuch streben wir eine Kooperation im Bereich der Fortbildung jüdischer Religionslehrer an.
Kreutner: Unsere Kooperation geht über den Bildungsbereich hinaus. Es ist für beide Seiten wichtig, zu wissen, was in der politischen Landschaft des Nachbarn passiert. Denn viele Entwicklungen heute sind grenzüberschreitend: So kann ein Ereignis in Deutschland morgen für die Schweiz relevant sein. Wir sind deshalb sehr froh, wenn wir erfahren, mit welchen Themen sich der Zentralrat gerade befasst.

Bei alledem spielt aber auch das Private eine Rolle. Es scheint der Zusammenarbeit zwischen den beiden Dachorganisationen zugutezukommen, dass offenbar die Chemie zwischen Ihnen beiden stimmt.
Botmann: (lacht) Da liegen Sie nicht ganz falsch.
Kreutner: (schmunzelt) Sie haben eine gute Beobachtungsgabe.

Und wie wirkt sich dabei die Tatsache aus, dass der eine von Ihnen Historiker ist und der andere Jurist?
Botmann: Das sind in der Tat gänzlich verschiedene Ausbildungswege. Aber wenn ich mir die Geschichten unserer beiden Familien anschaue und wie wir aufgewachsen sind im jüdischen Umfeld, da sehe ich sehr viele Parallelen.
Kreutner: Interessanterweise haben wir miteinander bisher nie darüber gesprochen, dass wir ja unterschiedliche Ausbildungen haben. Aber ich denke, das ist zweitrangig. Wir teilen die gemeinsame europäisch-jüdische Geschichte und haben ähnliche Erfahrungen gemacht, auch wenn wir nicht im selben Land leben. Was uns im Übrigen auch verbindet, ist die Nähe zu Israel und die Freude an der hebräischen Sprache.

Wie man in der Schweiz Israel wahrnimmt, darüber haben Sie eine Dissertation geschrieben, Herr Kreutner. Ist das Israelbild bei Ihnen anders als in Deutschland?
Durchaus! Es gibt einen großen Unterschied: In Deutschland spielt bei der Wahrnehmung Israels die Schoa eine viel gewichtigere Rolle. Die Art und Weise, wie man in Deutschland mit der Vergangenheit umgeht, ist anders als in der Schweiz. Das wirkt sich auch auf die Wahrnehmung Israels aus. Deutsche Politiker sprechen oft davon, dass es wegen der Vergangenheit eine besondere Beziehung zu Israel gibt. Das ist in der Schweiz nicht der Fall.

Der Zentralrat hat kürzlich sein 65-jähriges Bestehen gefeiert. Der SIG ist bedeutend älter, er wurde bereits 1904 gegründet. In der Schweiz gibt es ein Kontinuum jüdischen Lebens, in Deutschland nicht – wegen der Schoa. Wie wirkt sich diese Tatsache auf die Zusammenarbeit zwischen Zentralrat und SIG aus?
Botmann: Als der Zentralrat vor 65 Jahren gegründet wurde, war gar nicht klar, ob er überhaupt so lange existieren würde. Das Überleben der jüdischen Gemeinden in Deutschland wurde erst durch die Zuwanderung von Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion seit 1990 gesichert. Die – sehr erfreuliche – Zuwanderung von Juden nach Deutschland führte dazu, dass man hier erst einmal wenig über die Grenzen schaute. Priorität hatte die Integration der Zuwanderer: sowohl ins gesellschaftliche Leben als auch in die jüdischen Gemeinden. Inzwischen sind wir weiter, und das Interesse an grenzüberschreitenden Kontakten und Projekten ist groß.
Kreutner: Das Schweizer Judentum existiert im Gegensatz zum deutschen Judentum seit Jahrhunderten kontinuierlich. Deshalb hat sich in der Schweiz ein bisschen die Tendenz entwickelt, sich an Bewährtem festzuhalten. Ich denke, dass der Blick auf die Dynamik des Judentums in Deutschland uns durchaus guttut.

Herr Botmann, gefällt Ihnen etwas an den jüdischen Gemeinden in der Schweiz, das Sie in Deutschland vermissen?
Ich würde nicht sagen, dass es in der Schweiz besser oder schlechter ist, aber es ist an einigen Stellen anders. In der Schweiz habe ich Gottesdienste erlebt, die mich an die Stimmung in der Synagoge in meiner Kindheit erinnerten. Ich bin in Trier aufgewachsen, in einer sehr kleinen jüdischen Gemeinde. Die Vorbeter kamen immer aus dem Elsass oder aus Lothringen, wo der traditionelle deutsch-jüdische Ritus bewahrt wurde.

Eine letzte Frage an Herrn Kreutner: Was halten Sie von der Schweizer Fremdenfeindlichkeit gegenüber Deutschen? Wie positionieren sich da die Schweizer Juden?
Wir verurteilen jede Form der Fremdenfeindlichkeit, nicht nur, wenn es um Juden geht. Wir positionieren uns regelmäßig gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, sei es gegen das Minarettverbot oder zur sogenannten Masseneinwanderungsinitiative. Zur Deutschenfeindlichkeit haben wir uns bisher nicht explizit geäußert, aber für mich ist klar, dass jede Form der Fremdenfeindlichkeit absolut zu verurteilen und zu bekämpfen ist – gegen wen auch immer sie sich richtet.

Mit dem Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland und dem Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds sprach Tobias Kühn.

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