Campus

Von der Zielscheibe zur Influencerin

Tessa Veksler erinnert sich noch genau an das Gefühl von Schmerz und Panik, das an jenem Tag im April 2024 in ihr aufstieg. Sie erinnert sich an den Moment, als sie den Raum betrat, in dem die Mitglieder der Studentenvertretung der University of California in Santa Barbara darüber abstimmen würden, ob sie ihre Sprecherin aus dem Amt entlassen sollten. Weil sie die Toten des Massakers vom 7. Oktober 2023 öffentlich betrauert. Weil sie für das Existenzrecht Israels eintritt. Weil sie Jüdin ist.

Veksler, groß, mit dunklem, streng gescheiteltem Haar und hellen Augen, erinnert sich, dass der Raum voll war mit Leuten, »die mich mit Leidenschaft abwählen wollten«. Und sie erinnert sich, dass einige Stühle in den Reihen ihrer Anhänger leer waren.

Antrag auf Amtsenthebung

Der Antrag auf Amtsenthebung scheiterte knapp. Heute lebt die 23-Jährige in New York, ist eine international gefragte Rednerin und Protagonistin in dem preisgekrönten US-Dokumentarfilm October 8, in dem es um die Explosion des Antisemitismus an amerikanischen Hochschulen nach dem Angriff der Hamas geht.

Vekslers Weg stehe beispielhaft für die Erfahrung vieler junger jüdischer Amerikaner nach dem 7. Oktober, sagt Jonathan Falk von Hillel International, der weltweit größten Organisation jüdischer Studierender. »Und er zeigt, wie diese Erfahrung eine neue Generation jüdischer Führungspersönlichkeiten hervorgebracht hat.«

Vor gut einem Jahr erreichte die Welle von antizionistischen und antisemitischen Protesten an amerikanischen Universitäten ihren Höhepunkt. Zehntausende Aktivisten, eingehüllt in Kufiyas und Palästinenserflaggen, belagerten das Gelände von mehr als 140 US-Universitäten, verwüsteten Gebäude, schüchterten jüdische Studierende ein. Mehrere Hochschulen, darunter auch Vekslers Universität, leiteten interne Untersuchungen wegen Diskriminierung jüdischer Studierender ein; es gab Anhörungen im US-Kongress und Rücktritte.

Epizentrum der Proteste war die renommierte Columbia University in New York, der die Trump-Administration im März den Geldhahn zudrehte, rund 400 Millionen Dollar an staatlichen Fördergeldern strich. Die Hochschule habe ihre Mission verletzt, die Sicherheit aller Studierenden – auch der jüdischen – zu schützen, hieß es als Begründung. Auch andere Elite-Universitäten in den USA sind von den Kürzungen betroffen.

Auf einem Flugblatt stand: »Tessa Veksler, du kannst dich nicht verstecken.«

Zahlreiche Rädelsführer der Proteste wurden angeklagt; US-Behörden verhafteten ausländische Studenten, denen die Unterstützung der Hamas vorgeworfen wird. Vielen droht die Abschiebung.

Die Verwaltung von Columbia änderte mittlerweile ihr Regelwerk, wie von der Regierung gefordert: Die Demonstrations­freiheit auf dem Campus wird eingeschränkt, die Befugnisse der Campus-Polizei werden ausgeweitet. Das Curriculum der Abteilung für Nahoststudien wird von einem Sonderbeauftragten der Universität überwacht.

Bereits vor Trumps Amtsantritt hatte die Hochschule Avi Shilon, einen progressiven israelischen Historiker, als Gastdozenten eingeladen, um mehr Vielfalt in den Lehrplan zu bringen. Auch er wurde zur Zielscheibe, als vermummte Demons­tranten seinen Kurs stürmten und antizionistische Parolen skandierten. Shilon lud die Randalierer ein, an seinem Seminar teilzunehmen – auf Arabisch, was die Demonstranten nicht verstanden.

»Sie haben zum ersten Mal ganz konkret erlebt, dass sie als Juden eine Minderheit sind«

Für ihn als Israeli seien die Proteste »unangenehm, aber nicht wirklich beängstigend« gewesen, sagt er. Schließlich komme er aus einem Land, in dem Krieg, Raketenbeschuss und Sirenen, das ständige Echo der Gewalt, zum Alltag gehören. Anders für jüdisch-amerikanische Studierende. »Sie haben zum ersten Mal ganz konkret erlebt, dass sie als Juden eine Minderheit sind«, sagt Shilon.

Tessa Veksler hatte sich schon früh mit ihrer jüdischen Identität auseinandergesetzt – teilweise zum Befremden ihrer säkularen Familie. Ihre Großeltern, Eltern und ihr Bruder waren 1990 aus der Ukraine, die damals noch Teil der Sowjetunion war, in die USA ausgewandert.

Veksler lernte Hebräisch in einem Chabad-Haus nahe San Francisco, reiste als Jugendliche nach Israel. Später schrieb sie sich an der University of California für ein Studium der Politischen Wissenschaften und Kommunikation ein, kandidierte als Vorsitzende der Studierendenvertretung und wurde gewählt.

»Ich wollte eine jüdische Sprecherin in einem diversen, nichtjüdischen Raum sein«, sagt sie. Sie war nicht naiv, hatte lange das Anschwellen des Antisemitismus in den USA genau beobachtet. Dennoch trafen sie der 7. Oktober und die Ereignisse, die folgten, wie eine Schockwelle. Da war zunächst das Entsetzen über das Attentat der Hamas, das Chaos, die Gewalt, die Geiselnahmen. Dann kam das Staunen darüber, wie schnell sich das Mitgefühl der Welt drehte, sich das Narrativ von Tätern und Opfern verkehrte. »Nicht einmal 24 Stunden später – Israel zählte noch die Toten – gingen Menschen auf die Straßen und demonstrierten gegen das Land, dessen Bürger gerade abgeschlachtet worden waren«, sagt Veksler.

Persönliche Beschimpfungen, Beleidigungen und Drohungen in den sozialen Medien

Schließlich traf Veksler der dritte Schock: persönliche Beschimpfungen, Beleidigungen und Drohungen in den sozialen Medien. Mitstudierende nannten sie eine Rassistin, eine Sympathisantin des Völkermords. »Tessa Veksler, du kannst dich nicht verstecken«, stand auf einem Flugblatt. »Kein Zutritt für Zionisten«, hatte jemand auf ein Schild am Eingang zum »Multikulturellen Zentrum« der Universität geschmiert, wo sich auch die Büros der Studentenvertretung befanden.

Eine Zeit lang hoffte sie auf Unterstützung der Universitätsverwaltung, begriff aber, dass von dort keine Hilfe zu erwarten war. Mitglieder der Studierendenvertretung stellten schließlich den Antrag, sie aus dem Amt zu wählen. Veksler fühlte sich erdrückt von dem Wissen, »dass Tausende Menschen einen tiefen Hass gegen mich empfinden«. Sie aß wenig, schlief schlecht, isolierte sich. Spielte mit dem Gedanken, ihr Amt aufzugeben – und verwarf ihn wieder. »Ich wollte nicht meine Identität verleugnen.«

Es war vor allem die persönliche Natur der Angriffe, die viele jüdische Studierende nach dem 7. Oktober verstörte, sagt Hillel-Vertreter Falk. »Es ist schlimm, wenn man ein Hakenkreuz auf den Bürgersteig geschmiert sieht. Aber es hat noch eine andere Qualität, wenn sich das Hakenkreuz an der eigenen Schlafzimmertür befindet, oder wenn jemand die Mesusa vom Türpfosten reißt.«

Ihr Glaube habe ihr durch die schwere Zeit geholfen, sagt Veksler. Sie mag keine Schubladen, fühlt sich aber der Bewegung des modernen orthodoxen Judentums verbunden. Sie lebt koscher und hält den Schabbat. Bei Freunden und Fremden in der jüdischen Gemeinschaft habe sie Ruhe und Schutz gefunden, sagt sie.

»Ich wollte nicht nur überleben, ich wollte als Gewinnerin hervorgehen«

Nach der ersten Welle der Anfeindungen suchte sie eine breite Öffentlichkeit, postete Videos und Fotos von den Verbal­attacken, denen sie ausgesetzt war. Der Hashtag #werenotgoinganywhere – wir Juden verschwinden nicht – wurde zu ihrem Markenzeichen. »Ich wollte nicht nur überleben, ich wollte als Gewinnerin hervorgehen«, sagt Veksler.

Bei all der tiefen Verunsicherung unter jüdisch-amerikanischen Studierenden und jüdischen Amerikanern allgemein gebe es auch einen positiven Aspekt, sagt der israelische Historiker Avi Shilon. »Das Klischee von ›Am Jisrael chai‹« – das Volk Israel lebt – »ist heute so lebendig wie seit Langem nicht mehr.« In der Zeit der antisemitischen Campus-Proteste hätten »viele jüdische Studenten ihre Stimme gefunden«, sagt Jonathan Falk. Und diese sei klar und kämpferisch. Hillel verzeichnete zu Beginn des Wintersemesters 2024/2025 einen Anstieg von 28 Prozent im Mitgliederengagement in den USA.

Der Hashtag #werenotgoinganywhere wurde ihr Markenzeichen: »Wir Juden gehen nicht.«

Tessa Veksler machte im vergangenen Sommer ihren Abschluss und kehrte Kalifornien den Rücken. Ihr Aktivismus brachte ihr ein Job-Angebot bei einer einflussreichen PR- und Lobby-Agentur in New York. Sie kandidierte bei den Wahlen für den 39. Zionistischen Weltkongress, der im Oktober in Jerusalem stattfindet. Die Ergebnisse werden in Kürze bekannt gegeben.

Veksler unterstützt die harten Maßnahmen der Trump-Administration gegen Universitäten, die unfähig oder unwillig gewesen seien, jüdische Studierende zu schützen. Auch hält sie den strengen Kurs gegen Rädelsführer der antisemitischen Proteste für gerechtfertigt. Die Argumente von Kritikern der Maßnahmen, die eine Untergrabung des Rechtsstaats und der Redefreiheit fürchten, teilt sie nicht. »Hier geht es nicht um Redefreiheit. Hier geht es um Handeln, um Gewalt und um Terror«, sagt sie.

Manchmal kehren die Erinnerungen an ihre letzten Monate in Santa Barbara zurück – an den Hass und die Demütigungen, an ihren Kampf und Sieg, aber auch an ihre Angst. »Mein Leben ist komplett anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt hatte«, sagt Veksler mit einem dünnen Lächeln. »Aber die Ereignisse auf dem Campus haben mir viele neue Möglichkeiten eröffnet, meine Botschaft zu vermitteln.«

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