Berlin

Vom Überleben der Bücher

Talmudbände, Fragmente von Torarollen, Gebetbücher und verlassene Synagogen: Die internationale Wanderausstellung »Last Folio« zeigt nun auch in Deutschland Spuren jüdischen Lebens in der Slowakei. Am Donnerstagsabend wurde die Schau mit 33 Kunstfotografien des bekannten Fotografen Yuri Dojc in der Berliner Staatsbibliothek eröffnet.

Gemeinsam mit der Filmemacherin Katya Krausova hatte Dojc Zeugnisse historischer jüdischer Kultur in der Slowakei gesucht und mit der Kamera festgehalten: eine ehemalige Mikwe, Kultgegenstände und vor allem Bücher – darunter fast zur Unkenntlichkeit zerstörte Buchfragmente, aber auch beinahe vollständig erhaltene Folianten und Rollen, die in Gebäuden und auf Friedhöfen gefunden wurden.

Reichtum Das Medienunternehmen Bertelsmann hatte die Ausstellung nach Deutschland geholt. Thomas Rabe, Vorstandsvorsitzender von Bertelsmann, sagte, es sei symbolträchtig, dass die Ausstellung gerade am Welttag des Buches eröffnet werde. Dojcs Bilder zeigten »einen unmittelbaren, intensiven Eindruck von dem, was zerstört wurde, aber auch vom kulturellen Reichtum der einst großen jüdischen Gemeinden in der Slowakei«.

Yuri Dojc beschrieb, wie er an einem der Fundorte eine Bibliothek entdeckte und ihm klargeworden sei, dass jemand die Bücher dort hinterlassen hatte: »Wir wussten nicht, wem sie gehört hatten, aber es war offensichtlich, dass diese Menschen deportiert worden waren. Ich wollte nicht nur dokumentieren, sondern mir wurde bewusst, dass diese Menschen keine Gräber hatten. Durch die Fotos können wir wenigstens in einer anderem Form an sie erinnern.« An einigen Orten fanden die Künstler Alltagsgegenstände genauso vor, wie sie 1942 bei der Deportation der slowakischen Juden verlassen worden waren.

Exilanten Dojc und Krausova sind beide Kinder von Schoa-Überlebenden und haben die Tschechoslowakei 1968 verlassen – in dem Jahr des Einmarsches sowjetischer Truppen zur Niederschlagung des Prager Frühlings. Der Fotograf lebt heute in Kanada, die Filmemacherin in London.

Dojc reiste seit 1997 zunächst allein, ab 2005 mit Krausova mehrfach in die Slowakei, um mit Überlebenden des Holocaust zu sprechen und Zeugnisse jüdischer Kultur zu dokumentieren. Aus den Gesprächen mit den Schoa-Überlebenden entstand auch ein Dokumentarfilm von Katya Krausova, der am kommenden Montag in Bratislava Premiere feiert. Zudem hält ein Kurzfilm Schüsselszenen der Begegnungen und der Arbeit vor Ort fest.

Für beide Künstler war das Projekt auch eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Familiengeschichte. In einem Gebäude entdeckten sie ein Gebetbuch mit dem Stempel Jakab Deutsch. Es stellte sich heraus, dass es dem Großvater des Fotografen gehört hatte, der während der kommunistischen Herrschaft seinen Namen in Dojc geändert hatte.

dachboden
Auf der Suche nach jüdischen Spuren wurden Dojc und Krausova unter anderem auch in Bardejov fündig – einem einst beliebten Kurort an der polnisch-ukrainischen Grenze. Auf dem Dachboden einer ehemaligen Schule fanden sie Schulbücher und -hefte. »Eine Geschichte, die uns sehr gerührt hat, war der Aufsatz eines Schülers zum Thema ›Was möchte ich werden, wenn ich groß werde‹.« Der Junge hatte über seinen Berufswunsch als Förster geschrieben. »Wenn man sich vorstellt, dass er diesen Traum wahrscheinlich nie realisieren konnte – das waren Momente, die mir viel mehr bedeuteten als nur die Zahlen der Opfer«, sagte Katya Krausova. Aus Bardejov waren 1942 mehr als 3000 Juden von den Nazis in die Vernichtungslager deportiert worden.

Ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist eine Innenaufnahme der großen Synagoge in Košice von 2006, ein farbenfroh gestalteter großer Betraum mit Empore und Platz für mehrere Hundert Menschen, der seit der Deportation nicht mehr zugänglich gewesen war. »Last Folio« wurde bereits in den USA, in Großbritannien, der Slowakei und Italien gezeigt – sowie bei der Europäischen Kommission in Brüssel und den Vereinten Nationen in New York. In Berlin ist die Schau bis zum 27. Juni im Foyer des Hauses am Kulturforum der Staatsbibliothek für die Öffentlichkeit zugänglich. Der Eintritt ist frei.

Mehr zu den Bildern in der kommenden Printausgabe der Jüdischen Allgemeinen.

Bis 27. Juni, Mo-Fr 9 bis 21 Uhr, Sa 10-19 Uhr, Staatsbibliothek zu Berlin, Potsdamer Str. 33, Eintritt frei

Yuri Dojc & Katya Krausova: »Last Folio. Ein fotografisches Gedächtnis«. Prestel, München 2015, 39,90 Euro

http://www.bertelsmann.de/news-und-media/specials/last-folio/

Mexiko

Präsidentschaftskandidatin von Bewaffneten aufgehalten

Steckt ein Drogenkartell hinter dem bedrohlichen Zwischenfall?

 22.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

USA/Israel

Biden: Pessach-Fest ist besonders hart für Familien der Geiseln

Die abscheulichen Gräueltaten der Hamas dürften niemals vergessen werden, sagt der Präsident

 22.04.2024

Ukraine

Mazze trotz Krieg

Kyivs älteste Synagogen-Bäckerei produziert seit Jahrzehnten, und nun auch bei Raketenbeschuss

von Michael Gold  22.04.2024

Pessach

Der eigene Exodus

Wie erlangt der Mensch persönliche Freiheit? Wir haben sechs Jüdinnen und Juden gefragt

von Nicole Dreyfus  22.04.2024

London

Initiative gegen Antisemitismus: Polizeichef soll zurücktreten

Hintergrund ist ein Vorfall bei einer antiisraelischen Demonstration

 22.04.2024

Columbia University

Nach judenfeindlichen Demos: Rabbiner warnt eindringlich

Jüdische Studierende sind auf dem Campus nicht mehr sicher, sagt Elie Buechler

 22.04.2024

London

Polizeichef steht in der Kritik

Die »Initiative Campaign Against Antisemitism« fordert den Rücktritt von Sir Mark Rowley

 21.04.2024

Großbritannien

Der erste Jude in 1000 Jahren

Nick Rubins ist neuer Sheriff von Nottingham – und hat nur bedingt mit Robin Hood zu tun

von Sophie Albers Ben Chamo  20.04.2024