Äthiopien

Vergessen in Afrika

Amanuel sitzt in einem kleinen Café in Gondar, der alten äthiopischen Kaiserstadt, gegenüber dem Gebäude, in dem bis August 2013 die einzige jüdische Schule im Norden Äthiopiens untergebracht war. Der 48-Jährige blättert in einer vergilbten Ausgabe der israelischen Tageszeitung Haaretz, die ihm ein Tourist aus Tel Aviv vor einiger Zeit geschenkt hat.

»Irgendeinen Sinn muss es doch haben, dass ich Hebräisch gelernt habe«, sagt er und lächelt, während er die Artikel überfliegt, die er schon Dutzende Male gelesen hat.

»Ob ich in diesem Leben wohl noch nach Israel komme?«, murmelt er nachdenklich. »Inzwischen ist mein Bart grau geworden, und ich sitze immer noch hier.«

Amanuel gilt als Falaschmura. Seine Vorfahren waren Juden, die Ende des 19. Jahrhunderts – zum Teil freiwillig, zum Teil unter Zwang – zum Christentum übergetreten sind. Im Gegensatz zu den Falascha – auch Beta Israel genannt –, äthiopischen Juden, die offiziell jüdisch blieben, kann Amanuel nicht aufgrund des Rückkehrgesetzes die Einwanderung nach Israel beantragen, sondern höchstens aufgrund des Rechts auf Familienzusammenführung. Seine beiden Schwestern leben seit einigen Jahren in der Nähe von Jerusalem.

Ausreise Wenn es nach der israelischen Regierung geht, dürfte es Amanuel eigentlich gar nicht geben. Denn nach der Aktion »Taubenflügel« im Spätsommer 2013 erklärte Jerusalem die vor 30 Jahren begonnene Ausreise der äthiopischen Juden für beendet. Damals flog man noch einmal 450 Falaschmura, die in Gondar auf ihre Ausreise warteten, nach Tel Aviv aus. Alle hatten Familie in Israel.

Wer zurückgeblieben ist, muss einige bürokratische Hürden überwinden, um doch noch einwandern zu können. Etwa 7000 Falaschmura durften nicht auswandern. Entweder, weil sie keine Familienangehörigen in Israel hatten, oder sie werden als »nicht jüdisch genug« angesehen, da die väterliche Linie bei dem israelischen Einwanderungsgesetz nicht berücksichtigt wird, wie auch in Amanuels Fall.

»Die Unterscheidung zwischen Falaschmura und Falaschen hat es bei uns früher nicht gegeben«, sagt Amanuel. »Alle von uns haben die jüdischen Traditionen befolgt. Und wir betrachteten uns alle als Kinder Israels.«

Offiziell gibt es heute keine Juden mehr in Gondar. Im August 2013 wurde die jüdische Infrastruktur der Stadt aufgelöst: die Synagoge, die auch als Gemeinschaftszentrum diente, sowie die Beta-Israel-Schule, an der rund 250 Schüler unterrichtet wurden. Natan Sharansky, der Leiter der Jewish Agency, flog damals nach Gondar und übergab dem Bürgermeister die Schlüssel der Schule.

Die Synagoge wird zwar an jüdischen Feiertagen noch geöffnet, aber Amanuel und viele andere haben ihr Leben längst auf die Auswanderung nach Israel ausgerichtet. »Auch wenn man es in Jerusalem anders sieht, betrachtet uns die äthiopische Regierung als Juden«, erklärt er grimmig. »Mit staatlicher Hilfe können wir deshalb nicht rechnen.«

Amanuel berichtet von Jugendlichen, die sich zu Fuß über den Sudan auf den Weg nach Israel machten. Niemand hat jemals wieder etwas von ihnen gehört. »Die einzige Chance besteht nur noch in einer Anhörung im Büro der Jewish Agency in Addis. Aber ich habe nicht genug Geld, um in die Hauptstadt zu reisen«, sagt Amanuel traurig. »Ab und zu führe ich ein paar israelische Touristen durch Gondar, das ist meine einzige Einnahmequelle.«

Touristen Ein paar Kilometer südlich, am Stadtrand von Gondar, liegt ein Dorf am Fuße eines von Eukalyptusbäumen bewachsenen Hügels. Auf dessen Kuppe steht das Hotel »Joha«, eines der besten Häuser der Stadt. Die Gäste haben von dort oben einen fantastischen Ausblick auf die alte äthiopische Kaiserstadt.

Das Dorf, in dem einst die äthiopischen Juden lebten, sehen die Touristen nicht. »Etwa 6000 Juden gibt es noch im Großraum Gondar. Ich selbst kenne einige, aber hier im Dorf findet man keine mehr«, sagt Getachew. Der 33-Jährige ist in Gondar aufgewachsen, hat hier Touristik studiert und arbeitet heute als Tourguide, unter anderem für das Münchner Unternehmen Studiosus-Reisen.

Auf besonderen Wunsch führt er interessierte Touristen durch das Dorf, in dem sich noch eine verwaiste Synagoge befindet, die allmählich verfällt. Selbst gemalte Schilder begrüßen die Besucher und verweisen auf die jüdischen Wurzeln der Ortschaft. Kinder und Frauen strömen herbei und bieten den Besuchern Souvenirs an, darunter schwarze Tonstatuetten, wie sie einst von den äthiopischen Juden geformt wurden. Manche stellen den Löwen von Juda dar, andere zeigen das quadratische Bett, auf dem sich die Verbindung Salomons mit der Königin von Saba vollzieht. »Diese Tradition haben die Dorfbewohner von den Juden übernommen, die früher hier lebten«, erklärt Getachew. »Sie versuchen natürlich, auch etwas Kapital aus der Geschichte und den steigenden Touristenzahlen zu schlagen – wer kann es ihnen verübeln?«

Vor einer Hütte, an deren Wand die verblassenden Konturen eines Davidsterns zu erkennen sind, sitzt ein alter Mann auf einer Bank. »Ja, natürlich kann ich mich an die Falascha erinnern«, sagt er. »Wir haben hier gelebt wie Brüder und Schwestern, es gab keine Konflikte. Damals ging es uns besser, aber dann kamen die Revolution, der Bürgerkrieg, der Hunger.«

Handwerk Die äthiopischen Juden waren auf bestimmte Handwerkstraditionen spezialisiert wie zum Beispiel die Herstellung und Reparatur von Waffen. Als Äthiopien vor 30 Jahren von Hungersnöten und Unruhen gepeinigt wurde und Ende 1984 die Operation »Moses« begann, die erste israelische Militärmission zur Ausreise der Falascha nach Israel, hätten viele Dorfbewohner die Juden nicht ziehen lassen wollen, berichtet der Alte. Erst als sie versprachen, den Christen ihre Fähigkeiten beizubringen, ließ man sie gehen.

Die Juden flüchteten damals in riesige Auffanglager im benachbarten Sudan, dessen Grenzen nur rund 200 Kilometer von Gondar entfernt liegen. Von dort wurden mehr als 7000 Falaschen mit der belgischen Charterfluggesellschaft TEA über Brüssel nach Israel gebracht. Die Operation fand zunächst im Geheimen statt. Als Israels damaliger Premierminister Schimon Peres die Flüge auf einer Pressekonferenz bekannt machte, entzog der Sudan der belgischen Airline auf Druck der arabischen Nachbarstaaten die Landerechte. Rund 1000 Falaschen blieben zunächst im Sudan zurück.

Sechs Jahre später, 1991, wurden innerhalb von nur wenigen Tagen im Rahmen der Operation »Salomon« noch einmal Tausende Juden evakuiert, die sich auf das Gelände der israelischen Botschaft in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba geflüchtet hatten. Als Gegenleistung für seine Kooperation halfen die Israelis damals auch dem gestürzten Diktator Mengistu Haile Mariam zur Flucht, dessen kommunistische Herrschaft am Ende war. Es handelte sich um eine der spektakulärsten Evakuierungsmaßnahmen des 20. Jahrhunderts.

entwicklung Zurück im Stadtzentrum, zeigt Amanuel zwei israelischen Touristen die ehemalige jüdische Schule. »Ich finde es nicht richtig, dass so viele Juden hier zurückgelassen wurden«, sagt Igal, ein Jurist aus Haifa, der zusammen mit seiner Frau deren Heimatstadt besucht. »Wären wir bei der Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion auch so vorgegangen, hätte nur die Hälfte einwandern dürfen. Warum behandelt man die äthiopischen Juden so herablassend?«

Seine Frau stimmt ihm zu, verweist auf die positiven Entwicklungen bei der Integration der äthiopischen Juden in Israel. Deren Zahl beläuft sich, einschließlich in Israel geborener Nachkommen, inzwischen auf rund 130.000 Menschen. »Vor allem die Armee ist ein wichtiger Schmelztiegel, um die ethnischen Gruppen Israels einander näher zu bringen«, sagt Igals Frau und fügt lachend hinzu: »Auch ich habe meinen Mann in der Armee kennengelernt.«

»Für die Armee bin ich schon zu alt«, sagt Amanuel nachdenklich. »Vielleicht bin ich bald überhaupt schon zu alt für einen Neuanfang in Israel.«

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